Diskussion zum Roman «In einer dunkelblauen Stunde» von Peter Stamm

Bild: Buchcover In einer dunkelblauen Stunde von Peter Stamm

In seinem neuen Roman führt Peter Stamm sein Publikum ganz schön aufs Glatteis: spielerisch hüpft er zwischen Realität und Fiktion hin-und her, schüttelt Bilder und Zitate aus dem Aermel und verweigert lustvoll, dass man sich bequem in seinen alten Lesegewohnheiten einrichten kann. Kein Wunder hat dieser Roman in den Lesezirkeln zu spannenden und auch kontroversen Diskussionen geführt.

Die Ausgangssituation ist eigentlich schnell erzählt: Andrea und Tom – ein Paar im Leben und im Beruf – wollen über einen bekannten Schriftsteller einen Dokumentarfilm drehen, und in der Folge läuft so einiges aus dem Ruder: die finanziellen Mittel reichen nicht, die Stimmung am Set ist schlecht, Andrea und Tom geraten sich in die Haare und noch in der ersten Hälfte des Romans stirbt überraschend der Protagonist – der etwas bohèmehafte und arrogante Richard Wechsler. Das Filmprojekt scheitert, zurück bleiben offene Rechnungen und eine kaputte Beziehung; die Ich-Erzählerin Andrea leckt ihre Wunden und kehrt zurück in einen Büro-Job; daneben sucht sie den Kontakt zur langjährigen Geliebten von Wechsler, der reformierten Pfarrerin Judith. Die beiden Frauen sind sich sympathisch und freunden sich an – ob mehr drin liegt, bleibt offen. Aber immerhin zieht Judith bei Andrea ein, als diese sich endlich auch von ihrem Mann trennt.
Auf den ersten Blick erkennt man bereits: alle grossen Themen kommen vor oder werden zumindest angetippt; Kunst, Geld, Liebe, Angst, Scheitern, Schulden, Affären, Gender, Trennung, Sterben, Religion.

Ein irritierendes Vexierspiel

Aber Peter Stamm wäre nicht Peter Stamm, wenn er mit diesen Ingredienzen nicht mehr gestalten wollte als einfach eine Geschichte erzählen: er macht daraus ein Vexierspiel, in dem man sich verfängt. Denn bekannt ist, dass er selber – während der Entstehung dieses Romans – in ein solches Filmprojekt involviert war; die Crew begleitete ihn beim Schreiben, und er machte diese Begleitung gleichzeitig literarisch zum Thema. Deshalb heisst der Film – der in Realität nicht gescheitert ist – «Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt».

Was ist Fact, was ist Fiction ?

Ist der Autor Richard Wechsler also Peter Stamms’ Alter Ego ? Im Film sagt er zwar, dieser Autor im Buch habe gar nichts mit ihm zu tun, aber warum steht dann ein Bild von Stamm auf dem Cover ? Nicht nur die künstlerischen Ebenen Film und Literatur verwischen miteinander, auch die Wirklichkeit löst sich auf: was ist nun Fact, was Fiction, – und spielt der Unterschied überhaupt eine Rolle ? Nährt sich Kunst nicht immer aus diesen Uebergängen, – und ist nicht das Leben selbst nichts anderes als eine Mischung von Zufällen und Vorsätzen ?

Kontroverse Haltungen

In den Lesezirkeln war man ganz unterschiedlicher Meinung. Einige konnten mit dem Buch schlicht und einfach gar nichts anfangen, andere vermissten den roten Faden; die Befürworter:innen lobten die stimmungsvollen Bilder und die philosophischen Ueberlegungen; einige hatten entdeckt, dass sie das Buch ganz anders lasen, als sie endlich von der Erwartung eines Plots abgerückt waren. Auch mir ging es ähnlich: bei der zweiten Lektüre wurde ich regelrecht in diesen Hexencocktail hineingezogen und konnte auch den Sprachfluss geniessen; ich ahnte plötzlich auch die diebische Freude des Autors, uns Lesende um den Finger zu wickeln mit seinen Assoziationen und Behauptungen, (was dem Text auch eine gewisse Verspieltheit und Heiterkeit gibt).
Und ich glaubte zunehmend zu spüren, auf was Peter Stamm hier abzielte: er zeigt uns auf, wie Literatur entsteht, welche Quellen einen Stoff nähren, und wie stark auch Ungeplantes hineinspielt. Was dann der einzelne Leser, die einzelne Leserin später damit macht, steht auf einem anderen Blatt.

Ein Buch wie ein abstraktes Gemälde

So gesehen lässt sich «In einer dunkelblauen Stunde» auch sehr gut mit einem modernen abstrakten Gemälde vergleichen, sagte eine Teilnehmerin: die einen fühlen sich angesprochen; andere lässt es kalt. Aber solange man noch eine emotionale Regung spürt, darf man davon ausgehen, dass der Text doch etwas in einem ausgelöst hat. Richard Wechsler bringt es im Roman so auf den Nenner:
«Warum sind Leute immer so aggressiv gegenüber Büchern, die sie nicht mögen ? Statt sie einfach zu ignorieren ?
Bücher kommen uns sehr nah, viel näher als Bilder oder Filme. Sie kriechen in unsere Köpfe, verändern unsere Gedanken, wecken Bilder, erzeugen Phantasien. Das ist das Schöne an ihnen, aber eigentlich ist es eine Zumutung.»

Luzia Stettler

4 Kommentare

  1. Ich fand es spannend, wie viele unterschiedliche Meinungen es zum Roman in unserer Lesegruppe gab. Mir persönlich hat „In einer dunkelblauen Stunde“ extrem gut gefallen, aber ich konnte mich auch sehr gut mit der Ich-Erzählerin Andrea identifizieren, da ich im selben Alter bin. Und für mich haben das Spiel mit Realität und Fiktion, die Zeitsprünge und dieses schwer Fassbare das Lesen sehr lebendig gemacht.
    Wie so vieles, was in den Bereich der Kunst fällt, kann auch Literatur immer kontrovers diskutiert werden und gerade das macht die Lesezirkel für mich so interessant!

  2. Ich lese gerne Bücher die mich vom ersten Satz an in ihren Bann ziehen. Bei Peter Stamms „In einer dunkelblauen Stunde“ war dies definitiv nicht der Fall. Ich habe mich anfänglich schwer getan mit der Lektüre und mich gefragt: Will ich dieses Buch wirklich lesen? Der Autor gab mir umgehend die Antwort: Ja, ich will! Als ich zum wiederholten Male das Gefühl hatte, eine Stelle des Buches bereits in ähnlicher Form auf einer vorherigen Seite gelesen zu haben, hat es mich gepackt. Ich versuchte dem Pfad, der Spur, welche der Autor beim Schreiben legte, auf die Schliche zu kommen. Kein einfaches Unterfangen, es fühlte sich eher an wie eine Hasenjagd; jedes Mal wenn ich glaubte, die Wahrheit oder die Lösung einer geschilderten Situation gefunden zu haben, schlug mir der Autor einen Haken und ich durfte wieder neu beginnen mit meinen Überlegungen und Schlussfolgerungen. Dabei konnte ich meiner Phantasie freien Lauf lassen und selber entscheiden, ob ich den Aussagen des Autors glauben wollte oder lieber doch nicht. So habe ich das Grundgerüst des Romans mit meinen eigenen Gedanken angereichert und „bespielt“. Danke Peter Stamm für dieses Buch und was es bei mir bewirkt hat!

  3. Beim ersten Lesedurchgang habe ich immer ein bisschen darauf gewartet, dass „etwas“ passiert. Aber das tat es nicht… Dann habe ich den Dokumentarfilm über das Entstehen dieses Buchs geschaut und viel mehr verstanden, worum es in der Geschichte geht. Darauf habe ich das Buch noch einmal gelesen und dabei Finessen und tiefgründige Gedanken entdeckt. Mir gefällt, wie Peter Stamm mit den verschiedenen Wirklichkeiten spielt und sich resp. natürlich den Schriftsteller Wechsler, das Filmschaffen und überhaupt so einiges auf dieser Welt hinterfragt und manchmal auch auf die Schippe nimmt. So wurde die Lektüre nach einem Umweg doch noch zum Genuss für mich.

  4. An unserem virtuellen Treffen hat Peter Stamm gesagt, dass Bücher, die eine Auflösung haben, sich auch auflösen. Sie sind nach der Lektüre weg. ‚In einer dunkelblauen Stunde‘ ist bei mir definitiv noch da, nicht nur in meinem Bücherregal sondern auch in meinem Kopf, meinen Gedanken. Ich weiss noch nicht ob ich das Buch gut, sehr gut oder mässig gut finde. Das ist hier aber egal, denn das Buch beschäftigt mich weiterhin, auch nach den Besprechungen im Lesezirkel und dem Treffen mit dem Autor, und es gibt nichts Besseres als eine Geschichte, die noch lange nachhallt.

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