Diskussion zum Roman «Ungebetene Gäste» von Ayelet Gundar Goshen

Bild: Cover Ungebetene Gäste von Ayelet Gundar-Goshen

Manchmal spielt das Schicksal verrückt und ein Leben, das gestern noch ruhig seinen Gang nahm, läuft heute plötzlich aus dem Ruder. Davon erzählt Ayelet Gundar-Goshen in ihrem aktuellen Roman «Ungebetene Gäste». Es ist eine Geschichte über Feigheit, Angst und Verrat und zeigt uns eine Gesellschaft, in der das Misstrauen zum Alltag gehört. Ein Buch, das einem den Schlaf raubt.

Naomi ist nicht begeistert, als sie sich allein mit ihrem einjährigen Sohn Uri und einem arabischen Handwerker in der Wohnung in Tel Aviv wiederfindet. Ihr Mann Juval hat ihn mit der Renovierung ihres Balkons beauftragt. Während sie Kaffee zubereitet, entsteht plötzlich auf der Gasse vor dem Haus ein Aufruhr, ein Teenager ist von einem herabstürzenden Hammer erschlagen worden. Naomi wird schnell klar, dass ihr Sohn den Hammer in einem unbeaufsichtigten Moment vom Balkon gestossen haben muss, während der Handwerker kurz auf der Toilette weilte.
Sofort macht sich unten, wo das Opfer am Boden liegt, die Angst breit: ein terroristisches Attentat.

Schweigen aus Feigheit

Der Verdacht fällt nicht auf die israelische Familie, sondern auf den arabischen Arbeiter. Als ihn die Polizei wenig später verhaftet, und er die Welt nicht versteht, was er gemacht haben soll, könnte Naomi noch einschreiten; aber sie schweigt. Die Beamten stellen ihr auch keine Fragen; kaltblütig lassen sie nur die Handschellen zuschnappen und führen den verdutzten Mann ab. Erst zwei Tage später meldet sich Naomi auf dem Polizei-Posten und sagt die Wahrheit. Sie hat keine Ahnung, dass der Arbeiter inzwischen im Gefängnis gefoltert worden ist.

Wechsel nach Nigeria

Für ihre Feigheit bezahlt die Familie einen hohen Preis: Sie hält es in der Wohnung in Tel Aviv nicht mehr aus und zieht nach Lagos in Nigeria; Juval, der Mann, hat einen Job bei einer israelischen Armee-Einheit bekommen, die dort stationiert ist. Das attraktive Gehalt gab den Ausschlag; denn ein Gericht wird demnächst entscheiden müssen, wer für den tödlichen Unfall die Verantwortung übernehmen muss: Die Mutter, die ihren Sohn nicht beaufsichtigt hat; oder der Handwerker, der seinen Hammer liegen gelassen hat. Ein guter Anwalt ist also wichtig, und vor allem sehr teuer.

Schuldgefühle

Aber auch in der Ferne kehrt keine Ruhe ein: Das Paar sieht sich konfrontiert mit anonymen Anrufen; ein totes Kücken im Briefkasten steigert die Angst. Uri, der kleine Junge, kann keine Nacht mehr durchschlafen. Und gleichzeitig machen die verdrängten Schuldgefühle besonders Naomi zu schaffen.
Juval hat andere Probleme: Er realisiert, dass die israelische Psychotherapeutin, die sich nun um die plötzlichen Alpträume seines Sohnes kümmert, eine alte Jugendliebe von ihm ist. Er möchte seine Frau darüber aufklären; aber auch er schafft es nicht, sie einzuweihen und schweigt.

Ein hochpolitischer Roman

So gerät man beim Lesen immer stärker in ein Netz von Lügen, Misstrauen und Feigheit – und realisiert allmählich, wie differenziert Ayelet Gundar-Goshen – am Beispiel dieser Familie – ein hochpolitisches Buch geschrieben hat: Das zwischenmenschliche Klima ist in Nahen Osten durch das konfliktreiche Nebeneinander der israelischen und arabischen Gesellschaft mittlerweile derart vergiftet, dass sich dieses Misstrauen tief in die Seelen eingeschrieben hat.

Toxische Atmosphäre

Das wurde auch in den Diskussionen der Lesegruppen deutlich: Warum zum Beispiel wird der arabische Handwerker von der Polizei einfach in Gewahrsam genommen, und Naomi muss als mögliche Zeugin gar keine Auskunft geben? Juristisch wäre so eine einseitige Behandlung in der Schweiz undenkbar. Andererseits herrscht hier auch nicht die ständige Panik, dass wieder ein terroristischer Anschlag passieren könnte. Subtil werden wir selber von dieser toxischen Atmosphäre angesteckt. Und wir ahnen, dass uns die Autorin da Einblick gibt in eine Realität, die ihr als Israelin bestens vertraut ist.
Sie wertet nicht, sie moralisiert auch nicht, sondern zeigt einfach auf, wie stark die Bevölkerung mittlerweile geprägt und traumatisiert ist. Und zwar auf beiden Seiten.
Und sie lässt uns mit ihrer raffinierten Erzählweise nicht nur intellektuell sondern auch emotional dieses vergiftete Miteinander nachvollziehen.

Luzia Stettler

Ein Kommentar

  1. Dieses Buch hat mir gefallen, weil ich darin eine Intensität, eine Dringlichkeit spürte.
    Die einzelnen Charaktere kamen mir wie Schauspieler oder wie stark gezeichnete Figuren vor, die authentisch, menschlich, zugänglich und dramatisch wirken.
    Einige Voten aus meiner Gruppe fanden die Figuren unsympathisch, insbesondere Naomi. Ich glaube, die Autorin wollte keine Sympathieträger schaffen. Ihre Personen sind bewusst so gewählt und beschrieben in ihrem Spannungsfeld, zueinander und mit sich selbst.
    Das zu Beginn beschriebene Unglück und die daraus entstehenden Auswirkungen bilden den Rahmen für die grossen Themen: Schweigen, Wegschauen, Schuldzuweisungen an Andere.

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