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Diskussion zum Roman «Rezitativ» von Toni Morrison

Bild: Rezitativ von Toni Morrison

In ihrer einzigen Erzählung «Rezitativ» begleitet Nobel­preis­trägerin Toni Morrison zwei Freundinnen durchs Leben: Eine davon ist Afroamerikanerin. Aber welche? Intuitiv suchen wir nach Hinweisen und erschrecken über eigene Klischees … Die Lesezirkel-Teilnehmenden waren sich einig: Auch wenn man sich unterschiedlich auf die gelegten Fährten einlässt, bleibt die Lektüre dieses Textes sehr aufschlussreich – nicht zuletzt dank dem ergänzenden Nachwort von Zadie Smith.

«Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank». Mit diesem allerersten Satz wirft uns Toni Morrison sprichwörtlich mitten in den Text: Zwei 8-jährige Mädchen lernen sich in einem Kinderheim kennen, weil sich ihre Mütter vorübergehend nicht um sie kümmern können. Dieses gemeinsame Schicksal verbindet Twyla und Roberta sofort; auch die Tatsache, dass sie schlechte Noten haben und sich gegen die älteren Schülerinnen wehren müssen, schweisste die beiden zusammen. «Es war also erst mal egal, dass wir nebeneinander wie Salz und Pfeffer aussahen», kommentiert die Ich-Erzählerin Twyla. Die eine ist weiss, die andere schwarz. Auf nur gerade knapp 40 Seiten erzählt uns Toni Morrison die Geschichte der beiden Freundinnen und konfrontiert uns dabei mit unseren eigenen Vorurteilen: Wie beiläufig streut sie gängige Stereotype von weissen und schwarzen Menschen in den Text, sodass wir ganz schön ins Rätseln geraten, ob nun die eine oder die andere das Salz oder den Pfeffer darstellt.

Spätere Wiederbegegnungen

Nach den paar Monaten im Heim trennen sich die Wege der beiden Mädchen wieder. Erst Jahre später laufen sie sich zufällig in einem Restaurant wieder über den Weg: Twyla arbeitet dort als Kellnerin und erkennt Roberta in der Gaststube: Sie sei mit Kollegen unterwegs zu einem Jimi Hendrix-Konzert, erzählt sie begeistert. Auch wieder so eine geschickt gelegte Falle, die uns Roberta spontan eher als Schwarze einordnen lässt? (Zumal Twyla nicht einmal weiss, wer Jimi Henrix ist).
Eine dritte zufällige Begegnung findet nochmals etliche Jahre später statt: Mittlerweile sind beide verheiratet, haben Familie und leben am selben Ort; während Twyla eher der Unterschicht angehört, hat es Roberta deutlich besser getroffen: Ihr Mann ist IBM-Manager und scheint sehr viel zu verdienen; jedenfalls lebt Roberta mit Chauffeur und Bediensteten in einer vornehmen Villa. Ein sozialer Graben tut sich auf, der auch keine Rückschlüsse auf die Hautfarbe zulässt.
Als kurz darauf die Stadtbehörden die getrennten Schulklassen aufheben und weisse und schwarze Kinder gemeinsam unterrichten lässt, bricht ein offener Streit zwischen Roberta und Twyla aus … Macht man es sich auch allzu einfach, wenn man hinter der starken Gegnerin Roberta automatisch eine weisse Haltung vermutet?

Noch immer erschreckend aktuell

Angesichts der verbindenden Jahre staunt man beim Lesen, wie wenig es eigentlich braucht, dass Freundinnen zu Feindinnen werden. Stecken rassistische Motive dahinter? Oder können sich soziale Unterschiede nicht ebenso destruktiv auswirken? Und wie funktioniert eigentlich unser Gedächtnis: Verklären wir die Vergangenheit und blenden unliebsame Erinnerungen gerne aus?
So gesehen – da war man sich in den Diskussionen einig – ist das menschliche Miteinander komplex, und Ausgrenzung hat viele Ursachen und Erscheinungsformen: Immer finden sich Schwache, die als Sündenböcke herhalten müssen.
Vor diesem Hintergrund liefert die afro-britische Schriftstellerin Zadie Smith in ihrem intelligenten Nachwort so manchen Schlüssel zum Verständnis von Toni Morrisons Erzählung. Aber auch sie meidet – wie die Nobelpreisträgerin selber – eine klare Zuordnung in diesem «Salz-und Pfeffer»-Spiel. Damit zeigen beide in aller Konsequenz, wie gefährlich gängige Zuschreibungen in unseren Köpfen sind, weil sie oft an der Realität total vorbeizielen.
Toni Morrison hat diesen Text vor vierzig Jahren geschrieben, aber er hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil.

Luzia Stettler

3 Kommentare

  1. Für mich wäre diese Erzählung eine passende Maturalektüre. Ich denke, dass die Autorin ein pädagogisches, literarisches Exempel aufzeigen wollte. Für mich gleicht die Geschichte einer Parabel. Die Geschichte der beiden Protagonistinnen ist für mich fast Nebenschauplatz und die Frage, wer jetzt welche Hautfarbe hat, ist für mich Ablenkung von den wesentlichen Themen wie z.B. deren Kindheitserlebnisse, deren schulische Ausbildung im Heim, sich im Leben behaupten können, sozio-politische-ökonomische Situation im Lande.
    Die beiden Frauen bleiben für mich vor allem einsame Geschöpfe auch wenn sie Familien haben.
    Ich fand die Diskussion mit den TeilnehmerInnen sehr gut, deren Ansichten und Einwände. Ich freue mich auf das nächste Buch

  2. Ertappt!
    Auch mit viel gutem Willen und Disziplin kann das Kopfkino nicht einfach ausgeschaltet werden. Für mich war klar: Twyla hat eine helle Hautfarbe, Roberta eine dunkle Hautfarbe. Den Gedanken versuchte ich immer wieder erfolglos zu verdrängen, ich wollte ja offen sein. Bis ich dann im Nachwort von Zadie Smith las, dass „weisse Frauen Twyla eher als weiss einschätzten“. Ertappt!
    Ein sehr interessantes Experiment hat Toni Morrison mit unserem Geist und unseren Gedanken angestellt. Ich gehe mit Pia Kilcher einig: ein sehr geeigneter Stoff für Maturanden.
    Besonders hervorheben möchte ich den Mehrwert, den Zadie Smith uns mit ihrem Nachwort bietet. Vielen Dank an Luzia für die Auswahl und die einfühlsame Moderation.

  3. Was macht das Buch mit mir?
    Anfangs ertappe ich mich dabei, die Dinge und Handlungen einzuordnen
    Dann interessiert mich aber mehr die Beziehung der heranwachsenden Frauen
    Die Beziehung ist aus meiner Sicht grossartig, bleibt aber immer misstrauisch.
    (S.14)

    Dann kommt noch ein weiteres Thema hinzu, was ich faszinierend finde:
    Die Erinnerungskultur. Wer hat Maggie gestossen und warum haben die Kinder mitgemacht? Oder nur zugeschaut? Der Dialog der beiden Frauen spielt mit uns und unserer eigenen Wahrnehmung. Es gibt nicht eine Wahrheit, es gibt nur unsere Sicht darauf. (S. 20)

    Zitat: „Wollen ist wie Tun“ (S.28)

    Wie war es denn damals und aus welcher Sicht? Warum verhalten sich Menschen
    nach strengen sozialen Normen? Haben Sie gespürt, dass es falsch war?
    Warum haben sie nichts unternommen? Menschen werden geprägt, mit dem Weltbild, indem sie aufwachsen. Aber was ist richtig, was ist falsch und wie finden Menschen mehr zur Wahrheit? Ist es Bauchgefühl, ist es Wissenschaft? Ist Wissenschaft neutral?
    (S.21 ff., Filmtipp dazu „Der Vermessene Mensch“)

    Ein lesenswertes und hochaktuelles Buch, leicht zu lesen und doch auf so vielen Ebenen.

    Auf jeden Fall eine Bereicherung!

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