Die Geschichten, die uns Sybil Schreiber hier präsentiert, sind keine leichte Kost: Sie erzählt von verratener Liebe, enttäuschten Sehnsüchten und dem Hunger nach einem anderen Leben. Die dichte, präzise Sprache gefiel in den Lesezirkeln; einige hatten aber Mühe, dass so wenig Hoffnung aufscheint.
Wir befinden uns in einer anonymen Wohnsiedlung irgendwo in Deutschland oder der Schweiz: Nachbarn wissen wenig voneinander; zufällig hört man vielleicht mal einen Hund bellen und ein Kind weinen; oder man schreckt auf, weil der Krankenwagen vorfährt; ein Mann hat seine Frau kurzerhand über den Balkon gestossen. Jede Rettung kommt zu spät. Das Leben geht weiter …
Das unerwünschte Kind
Da ist zum Beispiel die dicke Barbara; dass sie unerwünscht ist, hat ihr schon die Mutter immer vorgeworfen, «ohne Dich wäre alles anders geworden. Da wäre ich jetzt in der Stadt.» In der Schule haben Kinder sie gehänselt; «beim Völkerball in der Grundschule wurde sie immer als Letzte gewählt.»
Auch mit den Männern hatte Barbara kein Glück; sie kommt mit dem geschiedenen Ernst zusammen; dieser ist traumatisiert, weil er verlassen worden ist, obwohl gar kein anderer im Spiel war. «Das passiert mir nicht nochmal Barbara. Hörst du.»
Mordgedanken
Mit knappen Sätzen, aufs Nötigste verdichtet, schafft Sibyl Schreiber beklemmende Stimmungen; wir ahnen das Abgründige hinter diesen Schicksalen und staunen eigentlich wenig, dass Barbara Mordgedanken hegt. So viele Demütigungen brauchen ein Ventil. Wenn sie Ernst schon nicht verlassen darf, entscheidet sie sich für einen anderen Abgang. «Kein Ernst mehr». Erst langsam ahnen wir, warum sie stundenlang den Kühlschrank putzt. «Die Vergangenheit abtauen, die Zukunft einfrieren».
«Ich bin keine Mutter»
Bei Kerstin hält sich unser Mitleid in Grenzen. Sie lässt sich durchs Leben treiben; arbeitet als Maltherapeutin und als der Mann das Thema Nachwuchs aufs Tapet bringt, willigt sie ein, obwohl ihr der Kinderwunsch fremd ist. Sie bekommt Zwillinge, und der Alltag wird zur Tortur: «Der Morgen. Der Abend. Dazwischen möglichst nicht stolpern.» Zu spät realisiert sie mit Schrecken: «Ich bin keine Mutter. Ich habe einfach Kinder.»
Die wunden Punkte
«Fadegrad» hält Sybil Schreiber den Finger auf wunde Punkte, spricht Tabus an und lässt ihre Figuren gnadenlos in ihren Verstrickungen strampeln. Auf jeder Zeile spüre ich, dass hier eine Autorin an Sätzen so lange gefeilt hat, bis kein Wort zu viel und keines zu wenig dasteht. Ihre Texte erinnern in ihrer Kargheit an Gedichte. Und manchmal blitzt auch so etwas wie Humor auf: Schwarzer Humor – aber auch der in knappen Dosen.
Ich mag Sybil Schreibers Texte; Geschwätzigkeit ist ihr fremd, und ich kann auch damit leben, dass wenig Hoffnung aufscheint. Einige in den Lesezirkeln hatten Mühe damit. Und gaben der Autorin deshalb zwei Noten: Eine Bestnote für ihr literarisches Können; und eine niedrigere Zahl für den Inhalt.
Mir gefällt diese Unerbittlichkeit. Denn bei aller Schwermut erkennt man auch Fluchtwege; und vor allem wird einem bewusst: Das Schlimmste ist verharren. Sein Leben ändern kann man nicht an andere delegieren. Man muss selber aktiv werden.
Luzia Stettler