Wir hatten in den Zirkeln zwei sehr anregende Diskussionen: für die meisten war das Thema überraschend und neu; einige wähnten sich am Anfang des Buches in einem Science-Fiction-Roman; und erst als sie auf YouTube den Reality-Check machten, wurde ihnen klar: Delphine de Vigan überzeichnet gar nichts. Viel Lob erhielt die Autorin auch für Sprache und Form: der raffinierte Mix aus Vernehmungsprotokollen, You-Tube-Szenen, Perspektiven-Wechseln, Dialogen und Zeitsprüngen gefiel.
Am meisten zu reden gab Mutter Melanie: sie ist offensichtlich eine sehr einsame Frau mit einem angeschlagenem Selbstbewusstsein. Deshalb auch ihre Geltungssucht und die übertriebene Kommunikation mit ihrer Community. Offen blieb, wie stark sie willentlich ihre Kinder missbraucht hat; für die einen war sie wohl einfach in diese ganze YouTube-Szene hineingeschliddert und verlor zunehmend den Bezug zur Normalität; andere sahen sie ganz klar als Täterin, die nur den Ruhm und das Geld im Visier hatte und sich nicht um das Wohl ihrer Kinder scherte.
Die Polizistin Clara irritierte einige Leserinnen: sie verstanden auch nicht, warum ihr die Autorin so viel Platz einräumte. Mir schien die Absicht dahinter klar: auch Clara war als Kind stark fremdbestimmt worden: statt vor die Kamera schleppten ihre Eltern sie ständig zu politischen Versammlungen. Auch so kann man Kinderseelen beschädigen.
Die überraschende Auflösung des Kidnapping-Falls polarisierte die Runde; was für die einen völlig plausibel wirkte, empfanden die anderen eher banal oder sehr weit hergeholt. Kontrovers auch die Meinung zum letzten Romanteil: Für die einen hätte es diesen Sprung in die Zukunft nicht mehr gebraucht, die anderen schätzten es, doch noch zu erfahren, wie sich eine solche Kindheit im Glashaus längerfristig auswirkt: Sammy, der früher widerspruchslos alles mitgemacht hatte, zog sich völlig aus dem Leben zurück, reagierte mit schweren psychischen Störungen; Kimmy hingegen wurde aktiv, machte ihrer Wut auf die Erwachsenen Luft: nicht zuletzt mit einer Strafanzeige gegen die eigene Mutter.
Das Buch hat mich beim Lesen richtig reingezogen und ich habe es innert kurzer Zeit beendet. Die Kapitel mit abwechselnder Sichtweise der Figuren, die schlüssige Handlung, eine sehr klare Sprache und ein brandaktuelles Thema sind ein gelungener Mix. Erstaunt hat mich, dass dieses Thema noch nie zuvor in einem Roman behandelt wurde. Ich habe es mit Spannung, Faszination und Schauder gelesen und das Thema hat bei mir noch einige Tage nachgehallt.
Einige Gedanken und Fragen an die Runde möchte ich hier teilen:
Ein grosses Thema stellt die Mutterliebe dar, allerdings ist mir aufgefallen, dass das Wort «Liebe» nur immer im Zusammenhang mit den Fans genannt wurde. Als gäbe es keine Liebe ohne Aufmerksamkeit, keine bedingungslose Liebe der Mutter. Ich fand es schon fast zu sehr übertrieben, dass Melanie ihr Handeln nie hinterfrägt; selbst auch dann noch nicht, als sich ihre Kinder immer mehr von ihr entfernen.
Der Kritiker der Kinder-YouTube-Szene spricht hier klar von Machtmissbrauch. Was mit einem harmlosen Spass beginnt, wird irgendwann zum Einkommen der Familie, und welches Kind möchte sich dagegen auflehnen, woran die ganze Familie abhängig ist? Ausserdem denke ich, dass die Kinder nur diese Version des Lebens erlernt haben; sie wurden auch zunehmend isoliert, spielten wenig mit anderen Kindern. Es gibt auch keine alternativen Tätigkeiten, die sich die Kinder aussuchen dürfen. Daher bin ich auch der Meinung, dass hier ein Machtverhältnis vorliegt, das vermeintlich aus guten Gründen genutzt und schliesslich ausgenutzt wurde.
Als im letzten Drittel die Handlung ins Jahr 2031 vorsprang, war ich positiv überrascht. Und dass es hierbei um die beiden gescheiterten Leben von Kimmy und Sammy ging, war ein sehr treffendes Ende. Was mir daran weniger gefiel, waren die klischeehaften Beispiele der Technik der Zukunft (automatische Verrieglungstür, Smartwatch, Gesichtserkennung.) Auf jeden Fall empfand ich das Jahr 2031 als kalt und unmenschlich. Was meint Ihr dazu?
Hallo Lia, ich finde es treffend formuliert, dass das Jahr 2031 kalt und unmenschlich beschrieben wird. Wir sind ja nicht so weit von diesem Jahr entfernt und die digitale Entwicklung empfinde ich nicht nur negativ . Ich bin durch das Buch jedoch aufmerksamer geworden über das was um mich geschieht in der digitalen Welt von der ich noch einiges nicht wusste wie mir scheint. Sicher ein Buch das mir bleiben wird und ein Denkprozess ausgelöst hat.