Den Roman «Eine unwahrscheinliche Begegnung» von Éliette Abécassis liest sich wie ein Kammerstück: von aussen gesehen passiert eigentlich wenig. Zwei Menschen – eine Frau und ein Mann – kreuzen zufällig Blicke im Zug; und beide fühlen sich zueinander hingezogen.
Sie betrachtete ihn erneut. Den Unbekannten, hinten im Abteil. Den Mann mit der würdevollen Stirn, dem ausgemergelten Gesicht, dem tiefblauen, intensiven, verwirrenden Blick. Er war schön. Auch er schaute immer wieder in ihre Richtung: Er musste sie beobachten, so viel wie möglich über sie erfahren anhand ihrer Gesten, ihres Ausdrucks, ihrer Gesichtszüge. Er lauerte auf ein Zeichen, eine Zäsur, einen Hinweis, damit er sie ansprechen konnte.
Auf dem Bahnsteig hilft er ihr galant, den Koffer aus dem Zug zu hieven. Alles wäre doch so einfach, denkt man… Liebesbeziehungen beginnen ja oft völlig unerwartet.
Ein dramatisches Schicksal
In dieser Geschichte gibt es aber ein Problem: Der Mann reist ohne Gepäck und Papiere, ist seit Monaten auf der Flucht, immer in Angst, von der Polizei festgenommen zu werden. Zwei Uniformierte warten bereits am Ende des Perrons auf ihn, weil er als Schwarzfahrer ertappt worden ist…
Sie ahnt sein Dilemma und beschliesst spontan, den Unbekannten zu verstecken: Sie hängt sich bei ihm ein; als Paar wirken sie weniger verdächtig; wartend bleiben sie am Gleis zurück…
Was die Autorin aus dieser Situation literarisch macht, ist packender als jeder Krimi: Éliette Abécassis wechselt Perspektiven, lässt uns ihre und seine Gedanken mitverfolgen und in die Tiefen ihrer Seelen blicken. So entsteht allmählich ein Gesamtbild: Beide stehen an einem Wendepunkt – sie, die erfolgreiche Juristin, funktioniert nur noch rational und ist in einer lieblosen Ehe festgefahren; er, ebenfalls gebildet und französisch sprechend, hat Mühe, sich in seiner Rolle als Flüchtling anzunehmen; er sehnt sich nach Stabilität und seinem früheren Selbstbewusstsein.
Warum dieses Buch?
Ich habe diesen Roman ausgesucht, weil mich die poetische Sprache und die verdichtete Form überzeugen. Und weil die Autorin uns Privilegierten im Westen einen Spiegel vorhält und unangenehme Fragen stellt: Bin ich in meinem Leben eigentlich glücklich oder lüge ich mir etwas vor? Wann ist es Zeit, die Weichen nochmals neu zu stellen? Hätte ich überhaupt den Mut, die Komfortzone zu verlassen? Welche Vorurteile prägen meine Einstellung gegenüber Flüchtlingen? Wie offen bin ich Fremden gegenüber?
Ich bin sehr gespannt, was «Eine unwahrscheinliche Begegnung» bei meinen Zirkel-Teilnehmenden auslöst und freue mich auf angeregte Diskussionen.
Die Sprache, diese Szenenwechsel fand ich anfangs eher komisch. Aber dann nähern sich die zwei Figuren in der Geschichte an, es wird konkreter und dann finde ich diese Sichtweise „ Er sagt, Er denkt… Sie sagt, Sie denkt…“ sehr passend und nahe an der Geschichte. Es ist der persönliche Einblick in je eine Figur, also schlüpft der Leser in die Rolle, in die Sichtweise derer. Die Sprache fand ich daher sehr gelungen.
Schwächen hingegen kann ich keine benennen.
Er: „Eine Frau wie sie muss man im Galopp nehmen, mit dem Säbel zwischen den Zähnen.“
Sie: „Sie kramte in ihrer Tasche, holte einen kleinen Beutel hervor und öffnete ihn. Rasch tupfte sie das Gesicht vor dem Spiegel ihrer Puderdose ab.“
Sehr klischeehafte und oberflächliche Chrakterisierungen der handelnden Personen. Tiefschürfende Gedanken („Die Liebenden gehen hier vor Anker.“). Staccatohafte Sprache in Hauptsätzen. Einheit von Raum und Zeit werden ständig in Frage gestellt.
Die Erklärung für diesen irritierenden Stil, die eigenartigen Bilder, die Klischees, das Durcheinander fand ich im zweitletzten Abschnitt: „Der [Polizei]Bericht war lückenhaft.“
Das Buch von Eliette Abécassis habe ich als märchenhaft-tragisch empfunden. Es hat mich etwas an den Film «Heute bin ich Samba» erinnert, mit Omar Sy (Sans-Papier) und Charlotte Gainsbourg (Alice, Karrierefrau, die sich nach einem Burnout in der Flüchtlingshilfe engagiert). Ein sehr schöner Film… halt auch eine Art «zauberhaftes Konstrukt», wie die beiden namenlosen Figuren auf dem Bahnhof auch – ohne Happyend.
Ich bewundere die französischen Autorinnen und Autoren dafür, dass sie die Fähigkeit haben, auf wenigen Buchseiten eine unglaublich dichte, atmosphärisch sehr stimmige (Bahnhof!!!) Geschichte zu erzählen. Was mich manchmal – auch bei dieser Autorin – etwas stutzig macht ist, dass die Figuren immer „blendend“ aussehen. Der Held hat blaue Augen – eine grosse Rarität; die Heldin ist in schönes Leinen gekleidet und trägt Highheels – bei der Rückreise aus den Ferien im Süden – dem Freund zuliebe… Strange.
Mir hat das Buch vor allem gefallen, weil es der Autorin gelingt mich zum Nachdenken über unterschiedlichste Lebensfragen anzuregen: Wie weit haben wir Einfluss auf unser Leben, auf unser Schicksal? Warum sind wir geboren, wo wir geboren sind? Lebe ich so, wie ich es aus tiefstem Herzen will? …Wir können tun, was wir wollen, die Grenzen sind unsere Eigenen….. Welche Grenzen setze ich mir selber und warum? Packe ich das Glück, wenns da ist?
Wo und wie begegne ich Menschen mit Migrations Hintergrund? Was lösen die Flüchtlingskrisen bei mir aus?
Das dünne Buch von Éliette Abécassis war zwar schnell gelesen, die Fragen und Gedanken dazu hallen aber lange nach.
Hätte ich das Buch nicht hier im Lesezirkel gelesen, hätte ich es wahrscheinlich abgebrochen; der Stil und die Umsetzung der Geschichte waren leider nicht meins!
Die Stärke des Romans ist ohne Zweifel die sehr genaue und präzise Beschreibung der Gedanken und Entwicklungen der Hauptfiguren, welche übrigens namenlos bleiben. Schwierig fand ich persönlich die chaotische Erzählweise, die Zeitsprünge. Und was letztendlich dazu geführt hat, dass meine Meinung zum Buch so negativ ausfällt, ist das allzu offensichtlich Klischeehafte (der Blick des Mannes auf die Frau, die Verklärung des Mutterbildes), die blumige und fast schon übertriebene Sprache und die häufigen Wiederholungen.