Diskussion zu «Verbrenn all meine Briefe» von Alex Schulmann

Dass dieser Roman «Verbrenn all meine Briefe» von Alex Schulmann niemanden kalt lässt, hatte ich vermutet. Ebenso war mir klar, dass die eine Hauptfigur, Grossvater Sven Stolpe, keine Sympathien ernten würde. Die einen sahen ihn als krankhaften Narzissten, andere empfanden ihn sogar als Monster. Was mich in den Zirkeln am meisten überraschte, war die recht verbreitete Meinung, dass der Autor hier eine Grenze überschritten hatte. Und es entstanden interessante Diskussionen zur Frage: Darf man so einen persönlichen Text über die eigene Familie überhaupt veröffentlichen?

Am Anfang dieses Romans stand die Wut: Ein Enkel – der Schwedische Autor Alex Schulmann – gerät immer wieder wegen Nichtigkeiten derart in Rage, dass die eigene Frau ihm droht, ihn zu verlassen. Seine Anfälle seien eine Zumutung, vor allem auch für die Kinder.
So beginnt Alex seinen Jähzorn zu hinterfragen und realisiert, dass schon sein Grossvater – der bekannte Schriftsteller Sven Stolpe – über Jahrzehnte die ganze Familie mit ähnlichen Ausbrüchen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Könnte er also unbewusst ein Verhalten übernommen haben, für das es in der Geschichte des Grossvaters einen Auslöser gab?

Die Romane liefern eine Antwort

Und tatsächlich gerät Alex auf eine Spur: Nachdem er nämlich akribisch nochmals sämtliche Romane des alten Mannes gelesen hatte, fällt ihm das wiederkehrende Thema auf: Eine Frau geht fremd. Offensichtlich muss Stolpe diesen Verrat einst selber erfahren haben, ansonsten wäre er wohl kaum literarisch derart von diesem Stoff besessen gewesen. Alex Schulmann recherchiert weiter und stösst tatsächlich auf eine brisante Geschichte: 1932 verbringen seine Grosseltern – frisch verheiratet – einige Tage in einem Schriftsteller-Domizil auf dem Lande.

Eine Romeo-und Julia-Geschichte

Und dort verliebt sich Karin Stolpe in einen anderen Mann: den Autor Olof Lagercrantz (den Vater übrigens von David Lagercrantz, der Jahrzehnte später dann die Millennium-Trilogie von Stieg Larsson weitergeschrieben hat).
Die «Liaison dangeureuse» fliegt auch schon bald auf, und Sven Stolpe macht klar: Hier haben zwei die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Er zieht alle Register, um Karin von einer Trennung abzuhalten; und macht auch klar: Weder sie noch ihr Liebhaber Olof würden diesen endgültigen Entscheid überleben. Nicht aus Liebe drängt er Karin zu bleiben, sondern aus narzisstischer Kränkung.
Und sie bezahlt für ihr Einlenken einen grossen Preis: 70 Jahre lang wird sie in dieser toxischen Beziehung noch ausharren müssen, geprellt um ihre grosse Liebe und ausgeliefert einem unmenschlichen Tyrannen, der sie sogar einmal bei einem absichtlichen Autounfall töten wollte.
Warum schafft es eine selbstbewusste, gebildete Frau wie Karin nicht, diesen Mann zu verlassen?

Raffiniert erzählt

Der Enkel erzählt die tragische Geschichte einer unglücklichen Ehe auf drei Ebenen; einerseits lässt er uns teilhaben an seinen Recherchen, andererseits taucht er immer wieder in eigene Erinnerungen an die Grosseltern ab; und dann setzt er – aus vielfältigem Quellenmaterial wie Liebesbriefen und Tagebüchern – die Ereignisse in jenem schicksalshaften Sommer 1932 zusammen.
Für mich eine atemberaubende Lektüre, die in Schweden auf grosse Resonanz stiess und auch schon verfilmt wurde. Ein Grund des Erfolgs mag sicher in der dortigen Berühmtheit aller beteiligten Figuren liegen.
Aber wohl gerade deshalb bleibt bei vielen Lesenden auch ein schaler Nachgeschmack zurück: Darf Literatur so gnadenlos ehrlich sein? Ist es zulässig, dass über tote Menschen solche intimen Details preisgegeben werden? Denn auch wenn das Buch als «Roman» bezeichnet wird, ist augenfällig, von wem hier die Rede ist. «Autofiction» nennt man dieses Genre, das momentan sehr gross in Mode ist. 

Luzia Stettler

4 Kommentare

  1. Während der Diskussion wollte ich von meinem Punktemaximum einen Punkt abziehen, weil ich ebenfalls irritiert war über eine mögliche Grenzüberschreitung dieser Autofiktion Ich habs aber nicht gemacht, weil ich finde: Ja, der Autor darf gnadenlos ehrlich sein. Wenn es zu Lebzeiten von Sven nicht möglich war, so ist es post mortem höchste Zeit dazu. Es geht ja auch darum, Karin, die Wildrose, in ein anderes Licht zu rücken. Zudem: Roman bleibt Roman.
    Im Anschluss an die Lektüre hab ich mir gleich „Die Überlebenden“ von Alex Schulman gekauft – im Wissen, dass mich nicht nur Schönes erwartet.

  2. Danke, Luzia, für deine hervorragende Zusammenfassung dieses auch für mich sehr packenden, spannenden Buches. Ich bin aber froh, dass du am Schluss einige kritische Fragen aufwirfst.
    Ich hatte nach der Lektüre des Buches den Eindruck, irgend etwas stimme da nicht. Die Karin im Buch war für mich nicht glaubwürdig. Sven als der Bösewicht, sie als das Opfer – steckt da nicht eine gewisse Agenda dahinter? Was ist da historisch, was ist Dichtung? Das bleibt für die Lesenden offen – und umso mehr drängt sich die Frage auf: ist es ethisch vertretbar, eine öffentlich bekannte Person so eindeutig als Monster zu beschreiben? Mir stellen sich da noch sehr viele Fragen!

    • Ja, mir stellen sich die Fragen auch. Ich hatte mr das Buch gekauft, weil ich es im Buchladen angelesen hatte und mich die einleitenden Seiten bewegten: wie wach und offen selbstkritisch da ein Mensch sich und seine Familiengeschichte befragt. Aber obwohl er zuvor noch (anhand von „The Kings Speech“) betont, dass man die Problematik eines Menschen nicht auf ein Ereignis herunterbrechen kann, ohne dessen Geschichte zu verfälschen, tut er danach genau das: Das macht die Gechichte spannend und rund, gibt ihr Suggestivkraft, spart aber so viel aus, dass man das Ganze nicht mehr recht glaubt.
      Mir fehlte vor allem die gesellschaftliche Dimension: Welche Rolle spielt z.B. diese ominöse Sigtuna-Stiftung, die ja bei Karins Begegnung mit ihrem Ehemann wie auch später mit ihrem Geliebten eine Rolle spielt?
      Dann die merkwürdige Szene auf dem Anwesen von Karins Eltern: Wieso wagt es Olof nicht, offen in Erscheinung zu treten? (Um Karins ehre zu schützen, kann es nicht sein, da sie sich schon von Sven getrennt hat.) Und vor allem: Woher hat Sven die Befugnis, die Knechte auf Olof zu hetzen und wo sind, verdammt nochmal, die Eltern und Besitzer des Grundstücks? Wenn eine Frau eine unerträglich gewordene Ehe verlässt und sich zu ihren Eltern zurückzieht, war es doch auch in den patriarchalischsten Zeiten üblich, dass die Eltern sie in Obhut nehmen und schützen, auch vor dem Ehemann.
      Dann dieser Autounfall: Entweder ist er schlecht erfunden, oder irgendwas anderes stimmt daran nicht. Wie kann Sven einen völlig falschen Unfallhergang erfinden inklusive zweier Unfallbeteiligter, die es nie gegeben hat? Gab es denn kein Polizeiprotokoll?
      Und wieso musste Karins Kind überhaupt abgetrieben werden? Hatte Sven nicht den Mumm, es als seines anzuerkennen? War es nicht damals in solchen Fällen üblich, ein bisschen am Geburtsdatum oder wenigtens an den Umständen der Zeugung herumzumanipulieren und alles war vor der Gesellschaft in Ordnung?
      (Fast könnte man den Verdacht haben, dass die Eltern die schwangere Karin zur Sigtuna-Stiftung geschickt haben, um sich einen standesgemäßen Ehemann zu angeln, d.h. dass Sven sich schon am Anfang der Ehe hintergangen fühlte und nicht bereit, seiner Frau etwas zuzugestehen – aber auch zu feige, die Verbindung wieder zu lösen.)
      Schließlich: Svens Kindheit. Erst am Ende de Buches verrät uns der Autor, dass Sven ohne Vater aufwuchs, da dieser die Mutter und ihn verlassen hatte. Das ist doch in den Jahren um 1900 ein außerordentlichr Umstand! Sven hat da mehr verloren als nur den Vater: Eine solche – alleinerziehende – Mutter, ein solches Kind waren doch gesellschaftliche Geächtete, ein hartes Schicksal, und ich kann mir nicht vorstellen, dass bei einem bekannten Schriftsteller wie Sven ein solches Faktum nicht bekannt ist.
      Bewegend fand ich übrigens auch die Begegnung des Sven-Enkels mit dem Olov-Enkel, die beide Schriftsteller sind: Da zehren also noch die Enkel von der herausgehobenen Position der Großväter, führen auch deren Konkurrenz fort, und so, wie der Großvater Sven seine Tragödie in Romanen literarisierte, tut es auch der Enkel, nur unter umgekehrtem Vorzeichen und mit dem Schicksal seiner berühmten Großeltern anstatt mit dem eigenen (das mich mehr interessiert hättte). Schade.

  3. Nach der Lektüre des Romans war ich hellauf begeistert. Alex Schulman hat eine kraftvolle Geschichte geschrieben, die entgegen aller Grausamkeiten auch einen Funken Hoffnung in sich trägt. Traurig, tragisch, toxisch – so negativ diese dramatische Liebesgeschichte auch sein mag, hat sie mir doch am Schluss gezeigt, dass es von großer menschlicher Kraft und einem gewissen Mut zeugt, diese Umstände auszuhalten – was aber natürlich nicht die unglaublich toxische Beziehung und das Mittragen der Wut in die nachkommenden Generationen relativieren soll. Nach der Diskussion in der Gruppe musste ich jedoch meine Meinung etwas revidieren, denn der Autor spielt mit Wahrheit und Fiktion, was mir beim Lesen nicht so ganz klar war -obwohl das Buch als Roman betitelt ist. Da es um Personen geht, die in Schweden in der Öffentlichkeit standen, bin ich davon ausgegangen, dass alles Erzählte den Tatsachen entspricht. Die zusätzliche Gruppendiskussion zum Thema „Was darf Literatur?“ hat mich jedoch eines Besseren belehrt. Dies fand ich sehr spannend und wichtig (danke nochmals für den Extra-Termin) und ich werde sicher in Zukunft etwas kritischer an manche Bücher herangehen.

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