Jan-Philipp Sendker, früher Asien-Korrespondent für die Zeitschrift «Stern», hat sich mit Romanen über Burma («Das Herzenhören») und China (u.a. «Das Flüstern der Schatten») international einen Namen gemacht.
Jetzt startet er mit «Akikos stilles Glück» seine Japan-Trilogie. Das Buch kam in den Lesegruppen mehrheitlich sehr gut an; allgemein fiel auf, wie empathisch sich der deutsche Autor in die kulturellen Eigenheiten der japanischen Gesellschaft eingearbeitet hatte.
Akiko ist 29 Jahre alt, arbeitet als Buchhalterin und lebt als überzeugte Single-Frau in Tokio. Sie ist bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die unlängst verstorben ist, und macht sich an die Arbeit, deren Nachlass aufzuräumen. Dabei wird sie eines Tages mit einer bitteren Wahrheit konfrontiert; in einem Ordner findet sie – sorgfältig abgelegt – Dutzende von Zahlungsbelegen, die nur einen Schluss zulassen: Der vermeintlich leibliche Vater, der sie in ihrer Kindheit regelmässig besucht und an Geburtstagen mit Spielzeug und Süssigkeiten überrascht hatte, war «nur» gemietet; jede einzelne Quittung für Teddybär, Schoko-Riegel und Karussel-Fahrt war im Dossier abgelegt. Akikos Mutter hatte diesen Mann offenbar über eine Agentur stundenweise angeheuert, um der Tochter und Verwandten den Eindruck von Familienglück zu vermitteln.
Warum diese Lebenslüge?
Wie geht man als Tochter um mit der Tatsache, dass die eigene Mutter eine solche Lebenslüge in die Welt gesetzt hat? Und was treibt einen Menschen dazu, den Job als Miet-Vater auszuüben und Dutzende von kleinen Kindern hinters Licht zu führen? Darüber will Akiko mehr erfahren und macht sich auf die Suche.
Jugendliebe Kento
Es ist aber nicht der einzige Schock, den die junge Frau im Laufe der Geschichte zu verdauen hat; zufällig trifft sie eines Nachts auf der Strasse ihre ehemalige Schul-Liebe; fast hätte sie den Mann nicht wiedererkannt: Kento wirkt wie ein Clochard, ungepflegt, ängstlich, distanziert. Mit leiser Stimme gesteht er ihr, dass er seine Wohnung kaum je verlässt; aus dem einst so begabten Wunderkind am Klavier war ein «Hikikomori» geworden; so nennt man in Japan junge Menschen, die sich aus Panik vor dem Leistungsdruck im Erwachsenenleben über Jahre in ihren Zimmern verschanzen.
Nahe bei den Figuren
Akiko gelingt es, mit ihrer rücksichtsvollen Art einen Draht zu Kento zu finden; sehr behutsam nähern sich die beiden einander an; und Akiko verdankt diesem Kontakt den Mut, sich näher mit ihrer persönlichen Herkunfts-Geschichte auseinanderzusetzen und neue Wege zu gehen. Wohin sie diese hinführen werden, lässt sich am Schluss des Romans nur erahnen: Nun hat Jan-Philipp Sendker noch zwei Bände Zeit, um diese Japan-Trilogie weiterzuentwickeln.
Zärtliche Erzählweise
In den Lesegruppen wurde vor allem die subtile, zärtliche und zurückhaltende Erzählweise gelobt; so erhält man den Eindruck eines «stillen» Buches, obwohl doch nicht wenig geschieht. Einzelne Lesezirkelnde hätten sich zwar eine etwas emotionalere, reichere Sprache gewünscht; aber man war sich einig, dass sich der Autor wohl aufgrund des Japan-Themas für diesen eher nüchternen Schreib-Stil entschieden hat. Jan-Philipp Sendker bleibt stets nahe an seinen Figuren dran und verhindert so, in Kitsch abzugleiten.
Einsam oder einfach nur allein?
Viel zu diskutieren gab die Frage, ob diese zwei jungen Menschen tatsächlich unter Einsamkeit leiden; oder ob sie nicht vielmehr einfach nur gerne alleine sind. Akiko hat zwar keine Familie, aber bewegt sich locker auch nachts durch Tokios Strassen, verkehrt in Bars und trifft sich mit Bürokolleginnen und Freundinnen. Und Kento hat sich offenbar auf eigene Initiative von seinen Eltern und Geschwister zurückgezogen. Was genau dahinter steckt, ist ein Geheimnis, das die Lesenden auf die Fortsetzungs-Bände neugierig macht.
Trend zur Single-Heirat
Vielleicht scheint uns europäischen Leser:innen halt auch vieles, was in Japan alltäglich ist, eher fremd; zum Beispiel der Trend der Single-Marriage, also der Wunsch vieler Japanerinnen, sich selber zu heiraten.
Was offensichtlich wird bei dieser Lektüre: Der Spagat zwischen der modernen, effizienten Industrie-Nation und der alten, auf Förmlichkeiten basierenden Kultur, macht es den Japaner:innen nicht immer einfach. Kein Wunder suchen Menschen dort nach Auswegen, beide Welten besser unter einen Hut zu bringen.
Luzia Stettler
Cover und Titel ließen zunächst die Befürchtung aufkommen, in die Themenwelt einer Rosamunde Pilcher abzudriften. Doch das bleibt glücklicherweise aus – und Luzia würde das ohnehin niemals zulassen. Stattdessen entfaltet sich eine spannende Geschichte, die ganz ohne Kitsch auskommt. Das uns fremde Japan wird lebendig eingefangen, wenn auch mit einem vielleicht zu auffälligen „Place-Dropping“, das den Eindruck erweckt, Sendker wolle demonstrieren, wie gut er Japan kennt. Gestört hat mich allerdings die einfache Sprache, die sich meist in einem Schema aus Haupt- und Nebensatz erschöpft – ein Stil, der sich nicht nur im Roman selbst, sondern auch in Kentos Erzählungen wiederfindet. Schreibt Sendker so, weil er als Journalist gearbeitet hat? Oder soll es ein bewusster Versuch sein, einen „japanischen Stil“ zu imitieren?