Mit dem Roman «Das späte Leben» hat Bernhard Schlink eine dankbare Vorlage für Buchclub-Diskussionen geliefert: Auf knapp 250 Seiten geht es um grundsätzliche Themen wie Liebe, Verrat, Krankheit und Tod. Und um die Frage, was im Leben eigentlich wesentlich ist. Das Echo in den Zirkeln war zwiespältig: Die einen vermissten den Tiefgang und fanden die Geschichte konstruiert; andere lobten die knappe präzise Form und die schöne Sprache.
«Sein erster Gedanke war, dass er statt der Treppe den Aufzug hätte nehmen sollen, jetzt, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb.»
Schon auf der ersten Romanseite wird klar, in welcher Situation der Protagonist steckt: Martin, 75, hatte sich in letzter Zeit häufig erschöpft gefühlt, dachte an Blutarmut oder Vitaminmangel. Aber medizinische Abklärungen lieferten den Beweis: Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. «Wie lange?» wollte der emeritierte Rechtsprofessor vom Arzt noch wissen. Dieser gibt ungern eine Prognose ab: «Wohl nicht länger als ein halbes Jahr.»
Ehefrau hat wenig Verständnis
Am Schluss werden es nur noch ein paar Wochen gewesen sein; aber diese nutzt Martin vor allem dazu, noch möglichst viel Zeit mit seinem 6-jährigen Sohn David zu verbringen. Ulla, seine viel jüngere Frau, ist voll beschäftigt als Malerin und Galeristin und hat Mühe, das eigene Programm auf den Rhythmus ihres kranken Mannes abzustimmen. Sie wirkt unkonzentriert, launisch und wenig verständnisvoll. Und einige in den Leserunden stellten sich die Frage: Benimmt sich eine Partnerin tatsächlich so unempathisch, wenn sie weiss, dass die Tage ihres Mannes gezählt sind?
Vielleicht plagt sie aber auch nur das schlechte Gewissen; denn sie hat eine heimliche Affäre mit einem Architekten und gerät wohl jetzt endgültig an ihre Grenzen.
Das Wichtigste in Briefform
Das Versteckspiel könnte sie sich ersparen; Martin kommt zufällig dahinter und beschliesst, ihr keine Vorwürfe zu machen. Man spürt, dass er seine Kräfte jetzt für Wichtigeres bündeln möchte. Um seinem kleinen Sohn dereinst die Möglichkeit zu geben, seinen Vater als Menschen näher kennenzulernen, schreibt er ihm Briefe, in denen er das Essentielle aus seinen 75 Jahren Lebenserfahrung zusammenfasst. Mal geht es um die Kraft der Liebe, mal um den Stellenwert der Arbeit oder um die Frage nach dem lieben Gott. Undogmatisch und selbstkritisch nähert sich Martin diesen grossen Themen und nutzt gleichzeitig die Chance, sein eigenes Leben nochmals Revue passieren zu lassen.
Mehr Liebe für die Mutter
Mir persönlich gefielen diese knappen, kursiv gedruckten Passagen; vor allem deshalb, weil es Bernhard Schlink hier gelingt, komplizierte philosophische Gedanken auf einfache, kreative und doch vielschichtige Sätze herunterzubrechen. Nie spielt sich sein Held Martin als allwissender Gelehrter auf, der seinem Sohn jetzt ein Handbuch fürs erfolgreiche Leben in die Hand drücken möchte. Im Gegenteil: er lässt Zweifel zu, ermuntert den Sohn, seinen eigenen Weg zu suchen und warnt ihn vor falschem Ehrgeiz. Es sei sicher besser, so zu leben, als überdauere einen nichts. «Auf die Nachwelt, den Nachruhm zu achten, ist töricht.» Nur etwas bereue er jetzt, kurz vor dem Tode: «Ich hätte mehr lieben sollen, nicht nur die Frauen, deren Liebe ich in Beziehungen oft als Selbstverständlichkeit nahm, sondern auch meine Mutter, als sie alt war.»
Vielleicht wird David ihm einst für diesen Hinweis danken; und Ulla, die noch vor vierzig Witwe ist, wird einen liebenden Sohn erleben, weil er diese weise Einsicht von seinem längst verstorbenen Vater übernommen hat.
Leicht und schön zu lesen
Was mich vor allem an der Lektüre beeindruckte: Trotz des doch schweren Themas gelingt Bernhard Schlink ein erstaunlich leichtes und sprachlich schönes Buch. Ohne dabei je in die Banalität abzurutschen. Und dieses Kunststück muss ihm erst einmal jemand nachmachen.
Luzia Stettler
Ich bin froh, dass ich Schlink’s Buch gelesen habe. Die Art und Weise, wie Martin Abschied nimmt, hat mich berührt. Er wird eigentlich alleine gelassen mit seiner Diagnose und für diesen Umstand meistert er seine Lage sehr gut. Durch die Briefe erinnert er sich an seine Kindheit und was von früher in guter Erinnerung blieb. Seine positiven Erlebnisse und und Erkenntnisse möchte er seinem Sohn hinterlassen. Mehr kann er ja nicht für ihn tun und gleichzeitig mit diesem Rückblick verabschiedet er sich von seinem Leben.
Martin erlebt in seinen letzten Monaten ein spätes Leben. Er hat sich vorher wahrscheinlich keine grossen Gedanken gemacht, wie dieser Lebensabschnitt ablaufen wird. Alles läuft in seinen Bahnen bis diese Diagnose aus heiterem Himmel eintrifft. Sein spätes Leben wird ein sehr bewusstes Leben. Er wird sich klar, dass sein kleiner Sohn für ihn das Wichtigste im Leben ist. Seine Ehe verläuft nicht so harmonisch wie er sich das erhofft hatte.
Das bewusste Leben im späten Leben verläuft in einer stillen Intensität. Briefe, Ausflüge und kleine Projekte folgen.
Der Schluss gefällt mir besonders: versöhnlich, traurig, friedvoll und hoffnungsvoll
Nachdem mich sein Vorgänger, Die Enkelin, total umgehauen hat, war ich sehr gespannt auf das neue Buch von Bernhard Schlink. Sein Schreibstil und seine Sprache haben mich wieder begeistert, einige Passagen haben mich in den Bann gezogen, mit der Geschichte und den Figuren bin ich jedoch nicht warm geworden. Das Thema, das der Autor in diesem Buch aufgreift ist sehr interessant, nur behandelt er es meiner Meinung nach oberflächlich. Ich hätte mir gewünscht, dass er mehr in die Tiefe geht und die Figuren stärker, prägnanter zeichnet – mir hat das gewisse Etwas leider gefehlt. Der Austausch in der Runde zusammen mit Luzia war dafür umso interessanter und sehr bereichernd!