In seinem neuesten Roman «Long Island» schreibt Colm Tóibín die Geschichte seines Weltbestsellers «Brooklyn» weiter. Im Mittelpunkt steht einmal mehr die Irin Eilish, die einst ihre Heimat verlassen hat und in New York in eine italienischstämmige Familie eingeheiratet hat. Zwanzig Jahre sind seither verstrichen. Und wieder stellt das Schicksal Eilish auf eine harte Probe.
Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Als die Hausglocke läutet, öffnete Eilish nichts ahnend die Tür und sieht sich einem wütenden Mann gegenüber; dieser gibt ihr zu verstehen, dass seine Frau schwanger sei, von Eilish’s Mann Toni. Und deshalb werde er den Balg nach der Geburt vor ihre Haustür legen. Reumütig gesteht Toni den Seitensprung und drängt Eilish, das Kuckuckskind in der eigenen Familie aufzuziehen. Eilish verweigert diesen Wunsch radikal.
Schon dieses Verhalten löste unterschiedliche Reaktionen in den Lesegruppen aus: Egoistisch und gefühlskalt fanden die einen; nachvollziehbar und konsequent lauteten die Meinungen anderer.
Zurück in die irische Heimat
Eilish braucht nach diesem Schock Distanz, zumal auch ihre italienische Schwiegermutter wild entschlossen ist, dieses fremde Baby ins Haus zu holen.
Erstmals seit ihrem Weggang reist Eilish zurück in ihre irische Heimat. Dort trifft sie auf ihre Jugendliebe Jim, den sie einst – wegen Toni – sitzengelassen hat. Alte Gefühle erwachen wieder; man trifft sich heimlich im Hotelzimmer; holt nach, was man vor zwanzig Jahren vielleicht nie ausgelebt hat.
Das grosse Schweigen
Trotz offensichtlich starken Gefühlen, reden die beiden kaum miteinander. Das wirkte auf viele Lesezirkelnde befremdend, selbst wenn man in Betracht zieht, dass diese Geschichte in den 70er-Jahren spielt und erst noch in einem stark katholischen Land. Wie kann es sein, dass zwei derart Verliebte einander nicht aufklären über ihre aktuelle Lebenssituation? So erfährt Eilish zum Beispiel nicht, dass Jim bereits heimlich verlobt ist – und zwar mit einer alten Schuldfreundin von ihr, der verwitweten Nancy. Als diese zu ahnen beginnt, dass Eilish ihr ersehntes Glück bedroht, scheut sie sich nicht, den Kampf um Jim aufzunehmen … und zwar um jeden Preis.
Spannender als ein Krimi
Was Colm Toibin aus diesem Versteckspiel macht, ist für mich spannender als jeder Krimi: Denn in der irischen Kleinstadt rumort die Gerüchteküche schnell, und die Augen sind überall.
In den Diskussionen fanden etliche Teilnehmende dieses fortschreitende Dreiecksverhältnis eher langatmig und konstruiert. Ich aber bleibe dabei: Für mich ist «Long Island» atmosphärisch dicht, raffiniert gebaut und enorm aufwühlend.
Luzia Stettler
Mich hat berührt, aufgewühlt und anfangs auch genervt. Diese kleinkarierte Welt, wo jeder jeden beobachtet, alles kommentiert wird und trotzdem sind die Menschen mit ihren Problemen alleine. Mich hat es auch an Meichtrys erinnert, wo auch getratscht, kritisiert und die wirklichen Sorgen nicht beredet werden.
Ich habe das Buch ein zweites Mal gelesen und mich in die Lage von Eilis versetzt. Über ihr Leben wurde bestimmt. Von der verstorbenen Schwester nach USA geschickt, kämpfte sie sich durch das harte Leben, das sie dort erwartete. Dank Toni hatte sie eine Art Familie erhalten und als sie zur Beerdigung zurück nach Irland ging, liess sie sich zu einer Heirat mit Toni überreden, was ein Fehler war. Weshalb sie niemandem daheim von dieser Heirat erzählte, ist mir ein Rätsel. Ich vermute, sie hatte Angst davor, dass ihr Umfeld damit nicht einverstanden gewesen wäre. Niemand interessierte sich wirklich, wie sie in Übersee lebte. Eilish kennt zwar jede Menge Leute aber sie hat keine Freunde.
In Brooklyn war sie anfangs glücklich mit ihrer Familie und ihrem Job als Buchhalterin. Die Hiobsbotschaft, dass Toni sie betrug, hat sie nicht so empört, eher, dass sie nun ein Kind aufnehmen soll. Sie wehrt sich, sie will nicht mehr fremdbestimmt sein. Sie flieht nach Hause und erhält auch dort keine Ruhe, denn ihre Beziehung zur Mutter ist nicht konfliktfrei. Die Mutter spielt die Beleidigte, die Stolze und Eilis ist nicht mehr das liebe Mädchen von einst.
Nancy ist für mich der konträre Charakter zu Eilis. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie auch wie Eilis kein leichtes Leben. Sie sieht in Jim die Lösung ihrer Probleme. Jim lässt sich auf sie ein, aus Bequemlichkeit?
Die grosse Liebe ist es nicht, eher eine winwin Situation für beide.
Das Aufflackern der Romanze zwischen Eilis und Jim zeigt wie das Leben nicht planbar ist. Eilis zeigt hier Gefühle und bestimmt, wann sie sich wo treffen und Jim spurt. Jim ist Eilis überhaupt nicht nachtragend, dass Eilis ihn damals ohne Vorwarnung verlassen hat. Für Eilis sind ihre Kinder das wichtigste im Leben. Sie nimmt sich selber immer zurück. Als Jim ihr die Beziehung zu Nancy gesteht, reagiert sie überlegen, nicht beleidigt, eher sprachlos. Ich habe den Eindruck, dass sie für Nancy zurückstehen und Jim ihr überlassen würde, denn sie kommt mir so selbstlos vor. Nancy hingegen, hat keine Ahnung, was ihre einstige Freundin wirklich alles durchgemacht hat.
Im Rückblick, nach der Lektüre, ist die Geschichte für mich aufgegangen. Bei der Lektüre habe ich mich aber z.T. gelangweilt, war auch etwas genervt, weil es nicht vorwärts ging. Am Anfang eine Bombe, am Schluss eine Bombe, aber dazwischen viele Nebenschauplätze und Nebenfiguren. Über ein wichtiges Thema, die Beziehung zwischen Eilis und Tony, wurde kein Wort verloren. Gesprochen wurde ja eh nur hintenherum.
Die Hauptpersonen, Eilis und Tony, wurden fast an den Rand gedrängt von der Geschichte um Nancy. Nicht zu reden von der Mutter des Kindes, die überhaupt keine Rolle spielte. Seltsam.
In der Diskussion habe ich gemerkt, dass es sicher ein Vorteil war, die Hauptpersonen und die Vorgeschichte bereits aus „Brookly“ zu kennen. Aber weil ich mit „Long Island“ kein Tólbín-Fan wurde, verzichte ich vorläufig auf die Lektüre, voraussichtlich auch auf den (nicht angekündigten) dritten Teil.
Als ich erfuhr, dass wir Long Island im Lesezirkel lesen würden, habe ich Brooklyn gelesen. Da bin ich Eilis zum ersten Mal begegnet. Sie wurde mir als starke, mutige Frau vorgestellt, die in jungen Jahren ihr zu Hause verlässt und in einem fremden Land auf eigenen Füssen stehen muss. Ihre Handlungen waren stark von ihrem Umfeld beeinflusst, dieses übernahm für sie die Entscheidungen. Ich hoffte deshalb, dass ich bei Long Island, zwanzig Jahre später, auf eine andere, reifere Eilis treffen würde. Obwohl der Anfang des Buches viel versprach, war dies für mich nicht der Fall. Das Buch lässt sich sehr gut lesen, ich habe jedoch keine Entwicklung bei Eilis gesehen. Die Nebenfiguren wie z.B. ihre Mutter, Schwiegermutter und Nancy sind viel besser charakterisiert. Ihr Verhalten stösst einen vor dem Kopf und sie sind diejenigen, die die Handlung der Geschichte führen. Es wird zwar auch hier Eilis Geschichte erzählt, sie ist die Hauptfigur, bleibt aber weiterhin im Hintergrund. Ich habe sie leider zu wenig gespürt.