Diskussion zum Roman «Martha und die Ihren» von Lukas Hartmann

Bild: Cover Martha und die Ihren – Lukas Hartmann

Mit dem Roman «Martha und die Ihren» setzt Lukas Hartmann seiner Grossmutter ein literarisches Denkmal: Schon in ihrer Kindheit wurden sie und ihre Geschwister auseinandergerissen und bei Bauernfamilien verdingt. In den Lesezirkeln war man sich einig: Dem Autor ist hier nicht nur das Porträt einer tapferen Frau gelungen, sondern auch ein Sittenbild der Schweiz des 20. Jahrhunderts – aus der Perspektive von unten.

Die zähe Romanheldin Martha eignet sich schlecht als Identifikationsfigur: Bei den meisten Leserinnen und Lesern hinterliess sie einen zwiespältigen Eindruck; hart zu sich selber und zu den anderen; auch zu ihren Söhnen und Enkeln. Kein Wunder nach der schwierigen Kindheit und Jugend, in der sie wohl kaum je Zuneigung und Zärtlichkeit erlebt hatte. Schon damals musste sie sich geschworen haben: «Nie wieder will ich in die Situation geraten, arm und abhängig zu werden.» Lieber arbeitete sie bis zum Umfallen, zeigte keine Schwächen, stellte eigene Bedürfnisse zurück.

Es gab auch eine andere Martha

Nur manchmal blitzt in den Erzählungen ihres Enkels, Lukas Hartmann, auch eine andere Martha auf: Eine fröhliche, verspielte – zum Beispiel wenn sie sich mit ihrem spärlichen Fabrik-Lohn ein Fahrrad leistet und begeistert mit Freundinnen zu Tanzfesten radelt. Oder Jahrzehnte später auch eine selbstbewusste, emanzipierte – zum Beispiel wenn sie vor ihrer Einwilligung zur zweiten Heirat ihrem zukünftigen Gatten die klare Bedingung diktiert: getrennte Betten.

Ein Trauma setzt sich fort

Ich staunte beim Lesen, mit welchen präzisen, atmosphärischen Bildern und Szenen Lukas Hartmann das Leid einer Verdingkind-Existenz auf den Punkt bringt; und wie er deutlich macht, dass sich solche traumatischen Erfahrungen weiter vererben können: Auch Marthas Söhne wollen es in der Nachkriegszeit unbedingt zu etwas bringen. Und fordern damit den Widerstand der Enkel heraus: Diese rebellieren gegen das enge, strebsame Leben der Eltern und entwerfen politisch und gesellschaftlich völlig andere Visionen.

Die Ideen der 68-er Generation

Lukas Hartmann, ein typischer Vertreter der 68er-Generation, hat es geschafft, seinen jugendlichen Traum vom Leben als Künstler zu verwirklichen; aber – wie wir im Roman erfahren – hat er dafür auch einen grossen Preis bezahlt; die Auseinandersetzungen mit dem Vater führten zu viel Kummer und Streit. Welten prallten da aufeinander.
Umso schöner ist es nun zu spüren, wie sich Lukas Hartmann schreibend seinem Vater wieder annähert, indem er ihn auch als Opfer erkennt; als Opfer seiner Familiengeschichte und seiner Zeit. Da spürt man einen versöhnlichen Ton zwischen den Zeilen.

Gespräche im Altersheim

«Martha und die Ihren» ist zweifellos das persönlichste Buch von Lukas Hartmann, weil er hier ein Stück eigene Geschichte literarisch aufarbeitet. Geholfen haben ihm dabei lange Gespräche, die er noch im Altersheim mit Martha kurz vor ihrem Tod führen konnte. Was ihm als Kind gefehlt hatte, durfte er als Erwachsener doch noch erleben: Eine warmherzige, ihm offen und liebevoll zugewandte Grossmutter.
Trotzdem sollten nochmals Jahrzehnte vergehen, bevor er sich an diesen ganz besonderen Stoff herangewagt hatte. Die zeitliche Distanz hat wohl nochmals den Blick auf das Essentielle geschärft und das Herz für Verständnis geöffnet.

Luzia Stettler

3 Kommentare

  1. Das Buch hat mir sehr gefallen. Lukas Hartmann beschreibt die einzelnen Charaktere authentisch und im zeitlichen Kontext. Gerade die Berücksichtigung des zeitlichen Kontext scheint mir entscheidend für das Verstehen der Eigenheiten und das Verhalten von Martha wie auch ihrer Kinder.
    Vielen Dank, dass ich dieses Buch kennenlernen konnte. Ohne Lesezirkel hätte ich dieses wertvolle Buch wohl nicht gelesen.

  2. Das Buch «Martha und die Ihren» hat mich sehr berührt. Für mich wurde es nicht nur zum Denkmal für Lukas Hartmann’s Grossmutter und damit stellvertretend zum Denkmal für die vielen Verdingkinder in der Schweiz. Den Verlauf der Geschichte habe ich zunehmend auch gelesen als Zeugnis einer Versöhnung mit den eigenen Wurzeln, mit der eigenen Prägung. Ich danke Lukas Hartmann herzlich dafür, dass er uns Lesende durch das Buch und auch im Interview so offen und authentisch an diesem Prozess teilhaben liess.

  3. Dieses Buch hat mich zum Nachdenken über meine Familiengeschichte angeregt. Die Generation, die in der Schweiz um die Jahrhundertwende geboren wurde, war oft sehr arm und erlebte zwei Weltkriege und eine Wirtschaftskrise. Viele Schweizer sind deshalb auch ausgewandert. Ich kann das Leben meiner Grosseltern in ihrem historischen gelebten Kontext verstehen und akzeptieren. Meine Eltern, geboren um 1930, hatten wie Toni, diesen Vorwärtsdrang, diesen Arbeitswillen. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Lektüre habe ich erkannt, dass ich in den Fussstapfen meiner Eltern, ihre Lebensdoktrin verinnerlicht habe. Ich war 12 Jahre alt als die 68iger Bewegung in vollem Gang war. Meine Eltern und meine Verwandten waren schockiert und entsetzt – Anarchie und Kommunismus – unbegreiflich dieses Aufbegehren.
    Das Muster, das ich unbewusst von meinen Vorfahren übernommen habe, diese Erkenntnis, tut mir gut.
    Weiter hat mich berührt, wie Lukas Hartmann, seinen Konflikt mit seinem Vater zu verstehen versuchte und mit ihm ins Reine zu kommen wollte. Es schmerzt, zu sehen, dass der Vater bis zum Schluss überzeugt ist, dass er im Recht handelte resp. nichts falsch machte.
    Ich finde es heute spannend zurückzublicken und zu analysieren. Ein Lebensprozess dank .

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