Der gebürtige Leuker Wilfried Meichtry, geboren 1965, hat biografische Bestseller über Mani Matter, Katharina von Arx und das Ehepaar Iris und Peter von Roten geschrieben; vor dem Hintergrund seiner eigenen Walliser Kindheit ist nun sein erster Roman entstanden: «Nach oben sinken». Ein phantasievoller Junge rennt gegen die Mauer des Schweigens an und wird so zum Aussenseiter. Trost findet er in der Suche nach einem verschollenen Seelenverwandten. Die Lektüre stiess in den Lesezirkeln mehrheitlich auf grosse Begeisterung.
Selten war man sich in den Diskussionsrunden so einig wie bei diesem Roman: Der Ich-Erzähler – dieser wache und sensible Junge – wuchs einem in seiner wissbegierigen und rührenden Art unweigerlich ans Herz. Neugierig durchstreifte er die Gegend rund um Leuk in der Hoffnung, den versteckten Schatz des legendären Räubers Lisür zu entdecken; er dachte sich haarsträubende Geschichten aus, schrieb phantasievolle Aufsätze und stiess mit seinen vielen Fragen immer wieder auf eine Mauer des Schweigens. Kein Wunder wuchs im Kopf des Buben die Idee, dass wohl jedem Menschen nur ein begrenztes Kontingent an Worten zur Verfügung stünde; anders konnte er sich nicht vorstellen, warum Erwachsene so wenig redeten.
Der Zeitgeist der 70er-Jahre
Wilfried Meichtry hält in diesem Roman dem kleinen katholische Dorf Leuk einen Spiegel vor: Er zeigt, wie sehr Eltern und Lehrkräfte noch in den 70er-Jahren mit so einem begabten Kind überfordert waren, und welche dominierende Rolle die katholische Kirche im Alltag einnahm. Strenge Klosterschwestern – die sogenannte «Polizei Gottes» – kamen regelmässig nach Hause, um die Schulzeugnisse der Kinder zu kontrollieren; für den Jungen jedes Mal eine seelische Tortur.
Nur Grossmutter Maya, selber eine begnadete Geschichtenerzählerin, wurde für ihn zur Verbündeten: Auch bei ihr konnte man nie sicher sein, wann und wie sie wieder die Realität mit originellen Phantasien anreicherte.
Der mysteriöse Onkel Jean
Aber leider flüchtete dann auch sie ins Schweigen, als der Junge – zufällig auf dem Familiengrab – eine überraschende Entdeckung gemacht hatte: Der in Stein eingravierte Namen von Onkel Jean Donazzolo war offensichtlich später zum Teil wieder weggespitzt worden.
Was war der Grund? Wer war dieser Mann, dem man offensichtlich die ewige Ruhe auf dem Dorffriedhof nicht gönnen wollte? Je mehr die Verwandten eine Auskunft verweigerten, desto mehr erkannte der Ich-Erzähler in diesem mysteriöse Onkel Jean einen Seelenverwandten. Und die Suche nach Fakten brachte ihn dann auch wieder in Teufels Küche: Weil er sich unerlaubt Zugang zum Archiv verschafft hatte, flog er vom Gymnasium. Die Eltern waren einmal mehr verzweifelt.
Ein typischer Schweizer Stoff
Wie Wilfried Meichtry diese zum Teil höchst amüsanten Irrungen und Wirrungen dieses Walliser Buben beschreibt und es schafft, einerseits die geistige Enge einer solchen Kindheit zu schildern, aber auch die Gnade aufzeigt, wie Geschichten lebensrettend sein können, verdient Respekt. Offensichtlich hat der Autor hier einen sehr typischen Schweizer Stoff bearbeitet: Jedenfalls machte das Echo in den Literaturzirkeln deutlich, wie stark sich viele Leserinnen und Leser in ihre eigene Kindheit zurückversetzt fühlten. Offensichtlich ein Roman mit grossem Identifikationspotenzial.
Luzia Stettler
Wilfried Meichtry beschreibt in seinem Roman seine Kindheit im Wallis. Es zeugt von Mut, Geschichten aus seiner Kindheit und Familie zu erzählen. Diese Geschichten und Abenteuer sind spannend zu erfahren, zum Teil lustig, teilweise auch schwer zu ertragen, vor allem, wenn deutlich wird, wie verkannt das Kind oder der Jugendliche wurde. Dies macht das Buch lesenswert. Mich hat jedoch werder die Form noch die Sprache überzeugt.
Der Titel „Nach oben sinken“ nimmt Bezug auf die Begegnungen mit dem Trinker Vitus, für den der Ich Erzähler voller Bewunderung ist und mit dem er sein vermeintliches Aussenseiterdasein teilt. Vitus sagt, dass die selbstgefälligen Dorfbarone, eine Männerrunde inklusive dem Gemeinderat, nach oben sinken, weil sie sich über ihn als Alkoholiker lustig machen, keine Achtung vor der Andersartigkeit von Bewohnern haben. Die Obrigkeit fällt tief. Ich finde diese Aussage ausgesprochen weise. Und diese Aussage hätte neben dem Tiel auch das Motto des Romans geben können. Viele Entscheidungsträger und Betreuer des Ich Erzählers im Dorf würden das Motto verkörpern. Leider reihen sich die Geschichten des Ich Erzählers einfach aneinander ohne inneren Zusammenhalt. Bei einem Roman, als das das Buch bezeichnet wird, dürfte man ja Figuren und Geschichten frei erfinden um eine Verbindung herzustellen.
Leider lässt uns der Ich-Erzähler auch nicht an seinen Entwicklungen teilnehmen. Mich hätte es interessiert, welche Prozesse bei ihm dazu führten, dass er seinen Eltern verzeihen konnte. Ich kann annehmen, dass es seine Zeit auf der Alp ist. Aber er äussert sich nicht dazu.
Ich lese das Buch als Zeitdokument einer Kindheit im Wallis der 70er Jahren.
Liebe Andrea vielen herzlichen Dank für deine Interpretation des Buchtitels. Ich selber tat mich schwer, als ich eine Antwort formulieren wollte beim Durchgehen der Vorbereitungfragen von Luzia. Du hast es für mich auf den Punkt gebracht. Merci.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, den Stil habe ich insgesamt als flüssig und abgerundet empfunden. Auch wenn einigen das „große Ganze“ bzw. die Tiefe gefehlt hat, bin ich doch begeistert von der Beschreibung einer Welt, die ich so nicht kenne – das Schweigen und die Enge, die (Schein-)Heiligkeit im Wallis der 70er Jahre. Wilfried Meichtry vermittelt den Leser*innen die Stimmung und den Zeitgeist mit Humor und einer Spur Tragik und hält so den Spannungsbogen aufrecht. Meiner Meinung nach eine lohnende Lektüre!
Gerne schliesse ich mich Andreas Gedanken an, und ich bin froh, auch einmal ein paar kritische Bemerkungen zu Wilfried Meichtrys Roman zu lesen. Mich hat das Buch immer dort begeistert, wo es eindrücklich und authentisch die Landschaft, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die lokale Stimmung und die mitunter schrulligen Charaktere in dieser Oberwalliser Welt beschreibt. Grossartig! Inhaltlich hatte ich zu viele Déja-vu-Leseerlebnisse: Die aus der Reihe tanzende Grossmutter, die als einzige das Kind versteht; die abenteuerliche Suche nach einem geheimnisvollen Schatz in einer Höhle; das Gefühl des Jungen, nach der Geburt vertauscht worden zu sein und die Suche nach dem „richtigen“ Vater; und schliesslich der Versuch, das Schweigen zu durchbrechen und das Rätsel um Jean Donazzolo zu lösen. Die abendlichen Dialoge mit der späteren Schlummermutter und die ganze Liebesgeschichte, die diese erzählt, empfand ich über weite Strecken als gekünstelt und aufgesetzt. Die Begegnung mit der Grossmutter und die innere Versöhnung des Ich-Erzählers mit den Eltern am Schluss versöhnten auch mich wieder mit dem Buch. Vielleicht doch so etwas wie eine Entwicklungsgeschichte?
Ich gehöre zur Gruppe der von der Lektüre Begeisterten. Mir gefällt die grundsätzlich ruhige, überlegte, feinfühlige und versöhnliche Sprache, mit welcher eine schwierige Kindheit und Jugend in der katholischen Enge des kleinen Walliser Dorfes beschrieben wird. Eine Kindheit, die nicht Jahrhunderte zurückliegt, sondern die Erfahrungen unzähliger aktueller Zeitgenossen widerspiegeln. Die Sätze sind teilweise so phantasievoll und gleichzeitig für die Fantasie des Kindes umwerfend treffend komponiert: z.B. „Ihr schindelgedecktes Haus am Hexenplatz war der einzige Ort auf dieser Welt, an dem ich frei reisen und träumen konnte. In ihm gab es hundert Falltüren in die Vergangenheit und ein breites Tor in die Fantasie.“
Aber, bei der Liebesgeschichte der „Schlummermutter“ habe ich auch diagonal gelesen! Das war für mich der Stilbruch im Buch.
Ich bin hell begeistert vom Roman «Nach oben sinken». W.M schildert wunderbar wie sich Enge, strenge Religiosität mit blühender Phantasie nicht vertragen. Lebenshunger und Interesse sind unerwünscht.
Er macht es respektvoll, berührend, zum Teil aufwühlend und oft mit so gutem Humor. Ich hatte das Gefühl, W.M. erzählte aus meinem Kanton, Dorf, Religionsgemeinschaft usw. Seine Romanfiguren sind für mich, wie alten Bekannten wieder zu begegnen, z.B. Tschingerus-Vitus, dem wir den eindrücklichen Buchtitel zu verdanken haben. Ich finde der Roman ist eine äusserst bereichernde Lektüre.