Diskussion zum Roman «Oben Erde, unten Himmel» von Milena Michiko Flašar

Bild: Buchcover

Die Autorin Milena Michiko Flašar, Österreicherin mit japanischen Wurzeln, entführt uns in ihrem neuen Roman «Oben Erde, unten Himmel» ins aktuelle Tokio, der Weltstadt mit dem höchsten Anteil an Single-Wohnungen. Es geht um Einsamkeit, Sterben und Tod und um den Zerfall von familiären Strukturen. Ein ernster Stoff, leichtfüssig und doch respektvoll erzählt – mit liebenswerten Figuren und dem nötigen Tiefgang; dies das Fazit aus den Lesezirkeln.

Milena Michiko Flašar wählt für ihre Bücher immer Japan als Kulisse: Ihre Mutter wurde in diesem Land geboren und hat der Tochter die Liebe zur Kultur und den Menschen ihrer Heimat vermittelt. Mindestens einmal pro Jahr fliegt die Autorin von Wien nach Tokio. Sie hat ein Gespür für interessante Entwicklungen in Japan, die dereinst vielleicht auch Europa erreichen. Und sie besitzt die Fähigkeit, anhand einer guten Geschichte den Finger auf wunde Punkte in unserer Gesellschaft zu halten.

Hikikomoris und Kodokushis

In ihrem preisgekrönten Roman «Ich nannte ihn Krawatte» schrieb Milena Michiko Flašar zum Beispiel über «Hikikomoris»: Das sind arbeitsfähige Menschen – meist junge Erwachsene – die sich in ihren Zimmern verschanzen, den Kontakt zur Aussenwelt oft jahrelang abbrechen – aus Angst, den übersteigerten Erwartungen der Leistungsgesellschaft nicht zu genügen.
In «Oben Himmel, unten Erde» nimmt sie nun ein weiteres japanisches Phänomen unter die Lupe: Die «Kodokushis»- sozial isolierte Leute, die unbemerkt in ihren Wohnungen sterben und über Monate nicht entdeckt werden. Allein in Tokio sollen jährlich 100‘000 solcher Fundleichen vorkommen.

Neue Geschäftsidee

Kein Wunder hat sich da für clevere Unternehmer auch schon wieder eine Marktlücke eröffnet: Herr Sakai zum Beispiel führt eine Reinigungsfirma, die sich auf «Kodokushi»-Wohnungen spezialisiert hat: Seine Leute rücken aus, um die Räume der liegen gebliebenen Toten zu desinfizieren und für nächste Mieter wieder salonfähig zu machen. Zufällig bewirbt sich die junge Kellnerin Suzu, soeben von ihrem Chef mangels Kundenfreundlichkeit gefeuert, bei Herrn Sakai um eine Stelle als Putzfrau. Sie erfährt erst beim Vorstellungsgespräch von der Art der Reinigungsarbeiten. Mangels Alternativen nimmt sie – eher widerwillig – den Job an und erlebt dann auch manche Überraschung. Und wir als Lesende mit ihr.

Warmherzige Figurenzeichnungen

Zugegeben: Auf den ersten Blick tönt der Umgang mit Kodokushis vielleicht nicht gerade nach einem attraktiven Romanstoff. Was aber Milena Michiko Flašar aus diesem Setting macht, ist literarisch hervorragend: Mit sehr viel Wärme und Wohlwollen entwickelt sie ihre skurrilen Figuren, lässt uns teilhaben an ihren Sorgen, Nöten und Macken und treibt die Geschichte mit viel Witz und Tempo voran. Und doch fehlt es ihr nie am nötigen Gespür für das heikle Thema.
Eine Stütze des Romans ist zweifellos Herr Sakai: Der alte Japaner hat sich erst spät mit dieser Geschäftsidee selbständig gemacht; er ist ein Alltagsphilosoph, der mit Verstorbenen genauso respektvoll umgeht wie mit Lebenden: Er glaubt an Rituale und kümmert sich wie ein Vater um seine Angestellten. Und so erleben wir, wie die anfänglich sehr egozentrische Suzu in ihrem neuen Arbeitsteam regelrecht aufblüht, beziehungsfähig wird und realisiert: Auf Dauer ist ein Goldhamster als einziger Lebenspartner doch nicht eine bereichernde Existenzform. Wie Einsamkeit enden kann, hat sie in ihrem Job in der Zwischenzeit mehr als deutlich mitbekommen.

Luzia Stettler

4 Kommentare

  1. Uih, über Fundleichen sollte ich ein Buch lesen? Mit Lesen gestartet und ich wollte nicht mehr aufhören, nur noch lesen, lesen, lesen… Ein spannendes, sehr interessantes und tief berührendes Buch. Alle Figuren schloss ich ins Herz. Die Autorin zeichnet, die Ecken und Kanten, die Eigenarten ihrer Figuren respekt- und liebevoll. Ein Buch v.a. über das Leben und auch noch über den Tod. Es zeigt wie unangenehme Tätigkeiten in einem wohlwollenden Team, Freude und Sinn bereiten können. Wertschätzende Aufmerksamkeit gegenüber den Mitmenschen bereichern.
    Dieses Reinigungsteam wird mir immer in Erinnerung bleiben.

  2. Die japanischen Sprache hat Wörter, für die wir keine direkte Übersetzung ins Deutsche haben. Sie umschreiben Charakterzüge von Personen oder Situationen, für die wir schon fast einen ganzen Satz bilden müssen. Und wenn es zusätzlich um ein schwieriges Thema geht, sprechen wir schon gar nicht gerne darüber. Ich war beeindruckt mit welcher Leichtigkeit, Ruhe und sogar etwas Humor die Autorin dieses Thema angeht. Als Lesende begleitet man Suzu nicht nur auf dem Weg ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und neue Freundschaften zu knüpfen, man erfährt einiges über die japanische Kultur, wie Herr Sakai mit Kodokushis umgeht und was hier seine Aufgabe (oder Berufung?) ist. Die Autorin geht nicht nur sehr respektvoll mit dem Thema Tod und Kodokushis um, sie überträgt diesen Respekt auf ihre Figuren, so dass man diese schnell ins Herz schliesst. Hat sie Suzu davor gerettet selber eine Kodokushi zu werden? Vielen Dank für diesen Buchtipp und für den wertvollen Austausch in der Lesezirkel-Runde!

    • Luzia Stettler möchte ich sehr herzlich für diesen wunderbaren Buch-Tip danken. Ich habe das Buch unglaublich gerne gelesen, kehrte jeden Abend zu den Figuren zurück, die mir ans Herz gewachsen waren, deren Menschlichkeit und liebenswerte Eigenheiten ich in Erinnerung behalten werde. Und ich staune über die Jugend dieser schon so lebensklugen Autorin. Herzliche Glückwünsche!

  3. Ein Titel, der gwundrig macht. Aber dann oh Schreck, das Thema Fundleichen/Kodokushis in Tokio.
    Welche Erleichterung, als nach der ersten, sehr detaillierten Beschreibung einer Fundortsäuberung, uns die Schriftstellerin mit liebenswerten Personen bekannt macht und uns wunderbar bildhafte Szenen aus dem Leben in Tokio erzählt. Welche Erleichterung auch, für mich als sehr extrovertierte Person, mitzuerleben, wie Suzu sich von ihrer bequemen, aber isolierten Lebensweise verabschiedet und Platz findet in ein Team.
    *Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben so lebenswert machen. Guy de Maupassant*

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