1998 hat Brigitte Giraud ihren Mann bei einem Motorradunfall verloren. Jetzt – mehr als 20 Jahre später – stellt sie sich nochmals dieser persönlichen Tragödie, indem sie akribisch die Kette von Umständen analysiert, die am Schluss zum Tod geführt hatten: «Was wäre gewesen, wenn …?». Ein autofiktionaler Roman über Liebe, Schuld und Schicksal, der 2022 den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs gewonnen hatte: den Prix Goncourt. In den Lesezirkeln reichte das Echo von Begeisterung bis Ratlosigkeit.
Wir alle kennen diesen nagenden Gedanken: Was wäre wenn …? Hätte ich doch! Das können ganz banale Situationen betreffen wie den Ärger über ein entgangenes Schnäppchen oder auch gewichtigere Ereignisse wie Enttäuschung in der Liebe oder verpasste Job-Angebote. Auch wenn wir eigentlich genau wissen: Hadern bringt nichts, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.
Schuldgefühle
Bei Brigitte Giraud ist der Fall problematisch; sie wird auch Jahrzehnte später noch heimgesucht von Schuldgefühlen, und nennt sich selber mittlerweile «Spezialistin für Ursache und Wirkung». Seit jenem fatalen 22. Juni 98, als ihr Mann Claude auf dem Lyoner Asphalt aus bis heute ungeklärten Gründen verunfallte, zermartert sie sich das Hirn, über den rätselhaften Verlauf des Schicksals.
Ausgangspunkt ihrer Gedankenspirale ist ihr kleines, idyllische Haus in Lyon: «Denn das Haus steht im Zentrum dessen, was zu dem Unfall geführt hat». Sie entdeckte es 1998 zufällig, als sie fanatisch für die junge Familie eine bessere Bleibe suchte; und weil der Besitzer überraschend bereit war, es zu verkaufen, gab Claude ihrem drängenden Wunsch nach.
Selber verbrachte er keine einzige Nacht mehr darin, denn nur ein paar Tage vor dem Einzug schlidderte er mit dem Töff in den Tod. Rund 20 Jahre lebten Witwe und Halbweise allein in diesem Haus; jetzt wird es verkauft, und mit dem Beenden dieses Kapitels, muss sich die Autorin «noch über eine letzte Sache klar werden, um meine Nachforschungen abschliessen zu können.» Sie wollte endlich verstehen, wie es zu der Tragödie gekommen war.
Das Leben bleibt zufällig
Dieser Wunsch nach Klarheit ist gleichsam ihr literarisches Konzept: Sie führt uns über 23 Kapitel detailliert vor Augen, wie das eine auf das andere folgte; und indem sie selbstkritisch «hundert Mal die Zeit zurück spult», und «jeden Schritt verstehen will, den man getan, jede Entscheidung, die man getroffen hat», führt sie sich und uns vor Augen, wie unberechenbar jedes Leben ist und zuweilen auch plötzlich tödlich endet, «wo man doch immer geglaubt hat, man sei einzigartig und unsterblich». So endet dieser Roman versöhnlich, weil wir spüren, dass die Autorin – mit diesem schmerzhaften Gang durch die Gedankenmühlen – endlich ihren inneren Frieden gefunden hat.
Seelenschau
Einige Leserinnen hatten Mühe mit dieser Seelenschau, fanden gewisse Zusammenhänge etwas gar an den Haaren herbeigezogen und sahen für sich persönlich wenig Gewinn aus der Lektüre.
Einig war man sich in den Diskussionen allerdings über die hohe Qualität ihrer Sprache.
Mich persönlich überzeugt an «Schnell LEBEN» vor allem die Form: Mit spürbarer Distanz, aber doch emotional engagiert bleibt Brigitte Giraud inhaltlich konsequent auf der gewählten Spur der Ursachen-Forschung; sie schafft es, die Spannung zu halten, obwohl wir das Ende eigentlich schon kennen, und lässt wunderbar den Zeitgeist der 60er- und 70er-Jahre in Frankreich und die Sehnsüchte eines algerisch-französischen Paares aus der Unterschicht aufleben.
Dass Brigitte Giraud im ganzen Text auf jegliche Schuldzuweisungen an andere verzichtet, und auch Claude keine Vorwürfe macht, (obwohl er das Motorrad unerlaubt benutzt und ohne Versicherung gefahren war), spricht für ihre charakterliche Stärke. Und für ihre grosse Liebe zu diesem Mann, dem sie hier ein literarisches Denkmal setzt.
Luzia Stettler
All die „Wenn..“-Geschichten und auch die ganze Verarbeitung dieses sehr tragischen frühen Tods von Claude waren mir fast zu intim und zu nah und zu akribisch erzählt. Was mich aber fasziniert hat im Buch, war der Flash-back in die Zeit vor 20 Jahren, ohne Handy, mit viel Rock-Musik und den Auseinandersetzungen zur Gleichbehandlung von Frau und Mann und der wirtschaftlichen und sozial herrschenden Aufbruchstimmung. Zudem gefiel mir auch der spürbare französische Lebens- Groove im Buch. Ich stelle mir vor, dass die französische Version sprachlich sogar noch intensiver wäre.
Gestern fertig gelesen… nur wenige Stellen bin ich gegen den Schluss gesprungen (z.B. einige technische Details zur Motorradherstellung in Japan). Mich hat fasziniert, wie die Autorin ihren persönlichen Gedankenfäden (solche mit eigenen Themen kenne ich von mir selbst gut) gefolgt ist und sie literarisch formuliert hat und dabei gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart verknüpft hat. Das Lesen empfand ich als Reise in das Gehirn und Herz einer Frau, die mit einer Wenn-Dann-Wäre-Dramaturgie schreibend ein Trauma versucht zu verarbeiten, das wir niemals erleben möchten. Mich hat Brigitte Giraud mit ihrem Roman berührt, literarisch inspiriert und mir erst noch Erinnerungen an „alte“ Zeiten geschenkt.
Ich kann die Lektüre auf Französisch nur empfehlen. Wer das macht, kann neue Wörter lernen wie z.B. „le grand huit“ (=Achterbahn) oder wunderbare, trotzdem gut verständliche Formulierungen geniessen: „Je reviens sur la litanie des ’si’…qui a fait de mon existence une realité au conditionel passé.“
Das Buch übrigens, das in Claudes Rucksack war, gibts auf Deutsch und heisst „Die Verschwörung der Idioten“ (John Kennedy Toole) und wurde 2011 neu übersetzt von Alex Capus.
Zuerst dachte ich, will ich das wirklich lesen? Eine Frau zermartert sich das Gehirn, wie sie einen brutalen Schicksalsschlag hätte abwenden können. Sie unternimmt in akribischer Kleinstarbeit einen mitunter magisch wirkenden Versuch, das ganze ungeschehen zu machen. So dachte ich jedenfalls. Doch dann konnte ich mich dem Sog der Erzählung von der ersten Seite an nicht mehr entziehen. Am Schluss war es auch eine faszinierende Reise in eine Zeit, die aus heutiger Sicht vielleicht romantischer erscheint als sie es damals war.
Dieser Roman im Konjunktiv hallt noch lange nach. Brigitte Giraud versucht, einen Sinn in der Sinnlosigkeit zu finden, das Schicksal zu erklären, durch die Recherche von Details Antworten auf Fragen zu finden, welche sich nicht beantworten lassen. Wahrscheinlich kennt jede*r von uns solches Gedankenkreisen, das durchaus obsessive Züge annehmen kann. Am Schluss bleibt die Feststellung, dass das Schicksal sinnlos ist – ein in gewisser Weise tröstender Gedanke.