An vier Abenden haben wir intensiv über Dörte Hansens’ Roman «Zur See» diskutiert. Die einen vermissten ein wenig den zentralen Plot; andere sahen gerade in diesem Panorama von Menschen-Schicksalen die grosse Stärke des Romans. Einhellig wurde der eigenwillige Sound und die besondere Form des Erzählens gelobt: Dörte Hansen gelingt das Meisterwerk, den Rhythmus der Wellen und Gezeiten mit ihrer lyrischen Sprache nachzubilden.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Familie Sander: schon seit Jahrhunderten ist sie auf der Insel zu Hause; trotzt hier Kälte, Wind und Wetter, und hat ueber Generationen klaglos das Leben der Vorfahren weitergeführt: die Männer fahren zur See, sind monatelang weg, und die Frauen ziehen die Kinder praktisch alleine gross.
Eine Welt im Umbruch
Aber die Zeit ist auch im Norden nicht still gestanden: vieles befindet sich im Umbruch, immer mehr junge Menschen wandern aufs Festland ab; kein Wunder gehen so zunehmend Kultur und Sprachen auf den Inseln verloren.
Nur zur Hochsaison im Sommer, wenn die Touristen in Scharen mit der Fähre vom Festland her anreisen, werden nochmals sämtliche Register gezogen, um dem Klischee des Insel-Alltags gerecht zu werden; wie bei uns in den Bergdörfern treten die Einheimischen in ihren Trachten auf, servieren lokale Speisen oder führen die Gäste zu besonderen Sehenswürdigkeiten, – vielleicht in der unangenehmen Ahnung, dass ihre Inszenierung mit der Realität schon längst nichts mehr gemeinsam hat. Denn der Strukturwandel der globalen Welt trifft diese am Aussterben begriffene Gesellschaft mit voller Wucht. Da helfen auch die burnout-geplagten Städter nicht, die sich ihr Seelenheil von einem Haus am rauhen Meer versprechen und auch bereit sind, jeden Preis dafür zu bezahlen.
Packend und authentisch
Vor diesem Hintergrund erzählt Dörte Hansen die Familiengeschichte der Sanders; unsentimental, klar und präzis hält sie den einzelnen Mitgliedern einen Spiegel vor und schildert deren Schicksale packend, leichtfüssig und immer mal wieder auch mit einem leisen Augenzwinkern. Man spürt beim Lesen ihre grosse Zuneigung zu diesen Menschen, weil sie aus eigener Erfahrung weiss, welche Spuren das harte Leben auf einer Nordseeinsel emotional hinterlässt. Sie kennt diese Welt und vermag sie wohl gerade deshalb derart authentisch zu beschreiben.
Die Familie Sander
Jens Sander, der Vater und einstige Seemann, ist schon vor Jahren von zuhause ausgezogen; offensichtlich fällt es ihm leichter, sich als Vogelwart um Gefieder zu kümmern, als daheim zum eigenen Nachwuchs zu schauen. Seine Frau Hanne engagiert sich im lokalen Völkerkundemuseum und sammelt emsig Geld, um das Skelett eines gestrandeten Wals als Insel-Attraktion wieder aufbauen zu lassen. Der ältere Sohn Rykmer, ebenfalls Kapitän, verfällt nach einem traumatischen Erlebnis zur See dem Alkohol; der jüngere Sohn Henrik sammelt Treibgut und versteht sich als Künstler; Tochter Eske arbeitet im Altersheim, liebt Heavy-Metal-Musik und pflegt eine heimliche Liebes-Beziehung zu ihrer Tätowiererin auf dem Festland.
Es ist sicher kein Zufall, dass alle Figuren den Spagat zwischen Tradition und Neuorientierung leben: Alle leiden sie auf ihre Weise an Einsamkeit und Verlorenheit, aber wagen es trotzdem nicht, ihren Kummer mit ihren Nächsten zu teilen. Lieber schweigt man, als seine Gefühle zu offenbaren.
Die Natur hat das letzte Wort
Diese Sprachlosigkeit spiegelt Dörte Hansen auch in ihrem Text: Dialoge gibt es praktisch keine; dafür aber hervorragende Schilderungen von Stimmungen zu Land und zu Wasser. Und so verwundert es auch nicht, dass Dörte Hansen diese Dominanz des allgegenwärtigen Meeres auch in ihrem Text widerspiegelt: wir spüren beim Lesen den Rhythmus der Wellen und den Atem der Natur.
Und selbst wenn am Schluss des Romans das Schicksal gnadenlos zuschlägt, mag das alte Wissen den Einheimischen vielleicht auch Trost zu geben: Die See hat auf diesen Inseln immer das letzte Wort; ihr kann sich letztlich niemand widersetzen.
Schon wieder ein Bestseller von Dörte Hansen – hab ich gedacht und in den Buchhandlungen einen grossen Bogen um diese Autorin, resp. deren Bücher gemacht. Luzia sei Dank, dass sie „Zur See“ auf die Leseliste setzte. Ein wunderbar knorriges Buch geprägt von Natur und – trotz aller Ecken und Kanten – liebenswerten Charkteren. Sowie einer wundervollen Sprache. Konsequenz: Ich hab mir gleich die beiden Vorgängerbücher von Dörte Hansen gekauft – obwohl mir ein Umzug bevorsteht und ich eigentlich ausmisten sollte…
ich brauchte zwei durchgänge
um mich mit „zur see“ anzufreunden.
doch anschliessend las ich „ altes land „ und „mittagsstunde“
parallel und mit SOVIEL
freude …….
danke luzia für dieses erlebnis