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Diskussion zum Roman «22 Bahnen» von Caroline Wahl

Bild: Buchcover "22 Bahnen" von Caroline Wahn

Mit ihrem allerersten Roman «22 Bahnen» gelang Caroline Wahl eine kleine Sensation: Die Geschichte über zwei Schwestern, die im Schatten einer alkoholkranken Mutter leben, wurde von rund 1000 unabhängigen Buchhandlungen in Deutschland zum «Lieblingsbuch des Jahres 2023» gewählt. Im Lesezirkel erntete der Roman allerdings nicht nur Begeisterung; einige hatten Mühe mit der Figuren-Zeichnung; andere fühlten sich vom Inhalt nicht so angesprochen. In einem Punkt war man sich aber einig: Die junge Schriftstellerin überzeugt vor allem durch ihren jugendlich-frischen Sprachstil und die Kunst, leichtfüssig und authentisch über ein schwieriges Thema zu schreiben.

Tilda ist ungefähr 24 Jahre alt, jobbt als Kassiererin in einem Supermarkt, steht kurz vor dem Abschluss ihres Mathematik-Studiums und trägt – als Mama-Ersatz – die Hauptverantwortung für ihre sehr viel jüngere Schwester Ida. Als «Grosse» ist sie für ihr jugendliches Alter also schon ganz schön gefordert. Erholung findet sie beim Schwimmen: Täglich zieht sie im Becken ihre 22 Bahnen; klare Strukturen im Leben sind ihr wichtig; selbst das Rätsel ihrer Zuneigung zum schönen Victor will sie wie eine Mathe-Aufgabe lösen. Ida hingegen ist eher die kreative, künstlerische Natur; bei Kummer und Sorgen hilft ihr ihr das Malen: In ihren Bildern spiegeln sich die unterschiedlichen Gemütsverfassungen.

Die alkoholkranke Mutter

Beide Schwestern haben offensichtlich eigenen Strategien gefunden, um mit ihrem schwierigen Schicksal fertig zu werden: Ihre Mutter ist nämlich Alkoholikerin, unfähig einer regelmässigen Arbeit nachzugehen oder sich um ihre Töchter zu kümmern. Meist liegt sie apathisch auf dem Sofa, wenn die Mädels abends nach Hause kommen; hat sie sich ausnahmsweise mal aufgerafft, den Tisch gedeckt und ein Essen vorbereitet, sind die beiden schon alarmiert: Sie wissen nur zu gut, wie schnell die Stimmung in hässliche Szenen und Gewaltausbrüche kippen kann. Auch sind sie es sich längst gewohnt, dass die Suchtkranke am folgenden Tag dann meistens Spiegeleier brät, – als hilflose Versöhnungsgeste. Die Hoffnung, dass sie jemals von der Flasche wegkommt, haben Tilda und Ida schon längst begraben. Und doch bleiben sie der Mutter loyal und zärtlich verbunden.

Grosse Resilienz

Was uns alle in den Lesezirkeln beeindruckt hat, war die Art und Weise, wie Caroline Wahl zwar sehr authentisch und präzise diese alkoholkranke Frau beschreibt, aber den Fokus auf etwas anderes richtet: auf die grosse gegenseitige Zuneigung und Fürsorge der beiden Schwestern. Wir staunten, über welche Resilienz die Töchter offenbar verfügen, und wie sie sich gegenseitig helfen, über sich hinauszuwachsen. Als Tilda’s Professor ihr eine Doktoranden-Stelle in Berlin in Aussicht stellt, will Ida alles daran setzen, «der Grossen» nicht vor dem Glück zu stehen. Und so nutzen sie das verbleibende halbe Jahr gemeinsam, um «die Kleine» tatsächlich fit zu machen, alleine bei der Mutter zurückzubleiben.
Diese Wandlung von Ida zur reifen Jugendlichen fanden nicht alle Leserinnen glaubwürdig; hingegen gefiel, dass man diesen Roman auch als «Coming-of-Age»-Geschichte lesen konnte: Trotz anspruchsvollem Pensum erleben wir auch bei Tilda eine Entwicklung; statt im Rückzug zu verharren, besucht sie Parties, probiert Drogen und lässt sich auch zögerlich auf eine neue, vielversprechende Liebesbeziehung ein.

Mutiges Debut

Caroline Wahl hat die Latte hoch gesetzt: Sich für den ersten Roman gleich das problematische Thema Alkohol-Missbrauch vorzunehmen, braucht Mut. Wie eigenwillig sie es dann literarisch umgesetzt hat, verdient Respekt: Sie benutzt eine lockere, unkonventionelle Sprache, die Tempo reinbringt, aber den Inhalt nicht banalisiert. Auch ist es ihr gelungen, trotz Emotionen nie ins Kitschige abzugleiten.
Kein Wunder hat sich die Jury der unabhängigen Buchhandlungen am Schluss entschieden, «22 Bahnen» zum «Buch des Jahres 2023» zu küren.

Luzia Stettler

Ein Kommentar

  1. Das Buch von Caroline Wahl, 22 Bahnen, hat mich sehr beeindruckt und ich denke viel über ihre Geschichte nach. Ich hätte dieses Buch nie ausgewählt vom Inhalt her und als ich es anfing zu lesen, dachte ich mir, wo bin ich da gelandet.
    Ich startete ein zweites Mal und versuchte, unvoreingenommen und konzentriert mich auf den Inhalt einzulassen. Ich tauchte ein und der Film ging los und er verlief spannend, lebendig, authentisch und nie sentimental.
    In der Buchdiskussion waren alle sehr angetan von Caroline Wahl’s erstem Roman.
    Gestern Abend lernte ich die Autorin persönlich kennen via zoom. Ich war drei Tage krank und ich freute mich auf diese Abwechslung zur Aussenwelt und ich wurde reich beschenkt in dieser Stunde. Ich erlebte Caroline Wahl als eine empathische und offene Person. Mir gefällt dieses Format, dass sich die Autor*innen zuschalten und sich Zeit nehmen, auf unsere Fragen einzugehen. Gerade gestern bei dieser jungen Autorin gefiel mir, dass sie von ihrem Werdegang und wie und wann sie das Buch schrieb, frei erzählte. Sie wirkt auf mich als zielstrebige, beeindruckende und mutige junge Frau, was mich sehr freut und ich lese bestimmt ihren Fortsetzungsroman, Windstärke 17.

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