Die drei Hauptfiguren des Romans stecken alle in einer Lebenskrise: Da ist Tessa, die Fotografin im mittleren Alter, die kurz nacheinander ihre Eltern verloren hat; da ist Sourie, der junge Pförtner im Seniorenheim, der vom Thema Tod besessen scheint; und da ist der liebeskranke Gastwirt Jean Tobelmann, der uns als Erzähler durch die Geschichte führt. Inhaltlich dreht sich das Buch um existentielle Fragen wie Schuld, Abschied und Tod. Selten hat ein Buch im Lesezirkel derart polarisiert: Neben etlichen Höchstnoten gab es auch Unverständnis und Kritik.
«Sourie freute sich auf den Tod. Davon erzählte er – mein durchaus lebensfroher junger Stammgast – Tessa an dem hellblauen Septembertag, als die beiden in meinem Restaurant auftauchten.» Schon dieser allererste Satz hat mich gepackt; denn damit lanciert die Autorin, Husch Josten, gleich zu Beginn ein faszinierendes Rätsel: Warum freut sich ein junger Mann auf den Tod? Was fasziniert ihn am Lebensende, dass er deshalb sogar eine Stelle in einem Altersheim angetreten hat? Und welche Erfahrung steckt wohl hinter seinem missionarischen Eifer, das gängige Tabu der eigenen Sterblichkeit zu brechen?
Autorin legt Fährten
Souris Geheimnis ist es denn auch, das mich bis zum Schluss an der Lektüre dran hält; raffiniert legt die Autorin Fährten und lässt uns gleichzeitig in die Lebensgeschichten der drei Hauptfiguren eintauchen, die im Laufe des Buches eine beachtliche Wandlung durchmachen.
Botschafterin gegen Einsamkeit
Tessa hat Sourie bei den regelmässigen Besuchen ihrer betagten Eltern kennengelernt; und ist nach deren Tod seinem Vorschlag gefolgt, als «Botschafterin gegen Einsamkeit» im Heim zu arbeiten; gemeinsam nehmen sie Kontakt auf mit den eigenwilligen Bewohner:innen und lauschen ihren Geschichten. Da ist zum Beispiel Iris Friedemann, die sich offenbar im Wahrsagen auskennt, und Sourie mit einer verblüffenden Aussage konfrontiert: «Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass ich Paris in Ihrer Hand sehe; irgendetwas hat es damit auf sich, aber …». Wieder so eine mögliche Spur, die meine Neugier weckt …
Erschütternde Wahrheit
Auch Tessa, die sich dann in der Folge in eine leidenschaftliche Affäre mit dem halb so alten Sourie stürzt, wundert sich über das eigenartige Interesse des jungen Pförtners; hinter seinem Rücken beginnt sie zu recherchieren und stösst dabei auf erschütternde Tatsachen: Erst jetzt gelingt es uns, das Verhalten von Sourie zu begreifen.
Neben der überzeugenden Sprache und den tiefgründigen philosophischen Gedanken ist es vor allem diese Auflösung von Souries Geheimnis, die mich für diesen Roman so eingenommen hat. Kommt hinzu, dass es Husch Josten hier gelingt, ein belastetes Thema wie das Tabu Tod auf ungewöhnliche Weise literarisch aufzuarbeiten.
Schade, dass einige Leserinnen und Leser in den Diskussionsrunden mit dem Text nicht warm werden konnten. Sie vermissten den roten Faden, suchten vergeblich nach einer Geschichte oder fanden die Lektüre allzu negativ.
«Die Gleichzeitigkeit der Dinge»
Mich persönlich hat dieser Roman nicht runtergezogen; im Gegenteil: Ich fand sogar Trost im Verhalten von Sourie; wie schön, dass ein junger Mann die Einsamkeit alter Menschen erkennt und aktiv dagegen etwas unternimmt. Vor dem Hintergrund seines persönlichen Schicksals, das erst im Laufe des Romans enthüllt wird, wuchs dann noch meine Wertschätzung für ihn. Und macht auch endlich den Blick frei für den vielsagenden Titel «Die Gleichzeitigkeit der Dinge».
Luzia Stettler
Dieser Roman handelt von den grossen Lebensthemen wie das Leben, Todesangst, Sterben, Liebe. Die Hauptperson, Sourie, ist für mich ein Mensch mit überdurchschnittlichen Qualitäten. Er ist feinfühlig, smart, zweifelnd, witzig. Bald erfahre ich, dass er sterben wird. Bis die Geschichte zu diesem Punkt kommt, lerne ich mehr über die beiden anderen Hauptpersonen. Jean gewinnt durch Sourie einen echten Freund, der sein Leben positiv beeinflusst. Tessa erhält dank Sourie echten Trost in ihrer Trauer. Beide überdenken ihre Leben und gehen gestärkt aus dieser Freundschaft-und Liebesbeziehung.
Für mich ist dieser Roman tiefgründig und mir gefällt, dass nicht alltägliche Themen zur Sprache kommen.
Ein Lesegenuss
Da kann ich Pia zustimmen, das Buch ist für mich ein Lesegenuss und ein grosser Trost.
In der Zeit, als ich das Buch las, kam ein Elternteil auf die Demenzabteilung und ein junger Arbeitskolleg verstarb unerwartet. Die Figuren spendeten mir Trost, wie sie sich über das Leben, den Tod, Freundschaft und Schuld unterhalten und/oder Gedanken machen, finde ich grossartig. Die Szenen im Altersheim sind so treffend dargestellt.
«Die Gleichzeitigkeit der Dinge» ist für mich eine weitere Leseperle, die ich dank dem Lesezirkel gefunden habe.
Für mich war das Lesen des ersten Teils des Buchs bis ca. Seite 120 eine harzige Angelegenheit. Ich quälte mich durch die Erzählung des liebeskummernden Tobelmann-Wirts über die m.E. schier endlosen Gespräche der drei Protagonisten über Tod-Leben, Trauer, Altersheim, etc. Dank der bevorstehenden Besprechung im Lesezirkel habe ich durchgehalten, denn plötzlich änderten die Orte der Erzählung (Schiferien im Südtirol, Treffen in der Wohnung von Sourie) und es flossen immer mehr kurze Anspielungenen (Tod in Norwegen, Bataclan) ein, die neugierig machten und eine Ahnung auf ein grosses Geheimnis aufkommen liessen.
Fazit: Ich bin froh, habe ich das Buch zu Ende gelesen habe und wieder einmal mehr bestätigt es, dass eine Teilnahme im Lesezirkel sich wirklich lohnt!
Husch Josten greift in ihrem Werk nicht nur große Lebensthemen wie Leben, Tod und Liebe auf, sondern zeigt auch eindringlich, dass viele Polaritäten des Lebens unauflösbar sind. Mir scheint, dass gerade in unserer zunehmend komplexen Welt der Wunsch nach einfachen Lösungen wächst. Husch Josten erinnert uns in ihrem Roman daran, dass das Leben selten so einfach ist.
Sie führt uns vor Augen, wie scheinbar widersprüchliche Wünsche – etwa Freiheit und Geborgenheit oder Veränderung und Beständigkeit – gleichzeitig nebeneinander existieren können. Auf den ersten Blick scheinen sie sich gegenseitig auszuschließen, doch Leben besteht vielleicht genau darin, diese Spannungen als Balanceakt auszuhalten.
Besonders gefallen haben mir in diesem Zusammenhang Sourie’s Gedanken zum Tod: Dieser ist zugleich das einzig Gewisse im Leben und doch etwas Unvorstellbares, ein Paradox, das uns herausfordert. Ebenso zeigt Josten, wie unerwartet wir im Leben oft mehrere Rollen gleichzeitig einnehmen – Opfer, Täter und Retter in einer Person und wie schwierig es sein kann, damit umzugehen.
Mein Fazit lautet deshalb: das Buch und die Auseinandersetzung im Lesezirkel haben sich gelohnt und mich sehr bereichert!
Ich musste das Buch zweimal lesen. Beim zweiten Mal im Schnelldurchlauf. Aber ich wollte – mit dem Wissen über das Ende – nochmals erfahren, wie sich die drei Personen in der ersten Hälfte des Buches miteinander ausgetauscht haben. Bei der ersten Lektüre war mir das Dialogische zu viel; die Geschichte entwickelte sich mühsam und vor allem Sourie nervte mich unheimlich. Bei der zweiten Lektüre hatte ich mehr Verständnis für sein Verhalten – und für das Buch. Mir wäre es lieber gewesen, das Attentat und Souries Verhalten im Bataclan wären als Proglog (der nicht alles aufgedeckt hätte) vorangestellt worden.