
Das Freibad im Sommer: Ein klassischer Ort, wo sich nicht nur Schicksale kreuzen, sondern auch Leute aus unterschiedlichsten Schichten, Altern und Herkunftsländern. Arno Frank setzt mit dem Roman «Seemann vom Siebner» diesem Kosmos ein literarisches Denkmal: Mit viel Liebe, grosser Beobachtungsgabe und starker Empathie. Und mit einer dramatischen Pointe, die erst auf den zweiten Blick klar wird.
Der Bademeister heisst Kiontke: Ein liebenswürdiger, gelassener Typ, der bald seit Menschengedenken im Freibad von Ottersweiler zum Rechten schaut. Seine Welt wurde nur einmal zutiefst erschüttert: Damals, als ein junger Mann nachts unter dem Zaun hindurchgekrochen war und aus Übermut (oder unter Alkoholeinfluss) einen Sprung vom «Siebener» wagte; leider hatte er aus der Höhe nicht erkannt, dass im Becken kein Wasser war; und somit seinem Leben ungewollt ein Ende gesetzt
Der Schock sitzt tief
Auch wenn sich Kiontke keine Schuld geben muss, nagt er doch schwer an diesem Unfall. Trotzdem widersetzt er sich konsequent den Vorschlägen von Renate, der Kollegin an der Kasse, die unermüdlich versucht, ihm eine Therapie schmackhaft zu machen.
Ein eigener Kosmos
Die Gäste, die an diesem einen Tag ins Freibad kommen, repräsentieren gleichzeitig die Vielfalt der Bevölkerung in der Provinz: Da ist Isobel, die pensionierte Lateinlehrerin, die Generationen von Schülerinnen und Schülern Cicero und Ovid beigebracht hat; sie ist Stammgast und leidet unter zunehmender Demenz (die sie allerdings immer noch geschickt zu verbergen versteht).
Beerdigung von Max
Auch Josefine, die von einer Professur in der Schweiz träumt, verbringt den Tag im Freibad; ausgerechnet heute, an dem gegen Abend noch die Beerdigung ihres Ex-Mannes Max stattfindet. Aber sie wird wohl nicht in der Kirche erscheinen; die Gefühle zu Max, dem Sohn des reichsten Unternehmers im Ort, sind erkaltet; und dass er vor ein paar Tagen einmal mehr zu schnell um die Kurve gerast war und dabei die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, kann sie eh nicht rückgängig machen.
Lenny kehrt zurück
Interessant ist höchstens, dass zu diesem traurigen Anlass Lenny, ein Jugendfreund von Max, nach Ottersweiler angereist ist; vor über 20 Jahren hatte er sich in die USA abgesetzt und dort als Fotograf Karriere gemacht. Für ihn schliesst sich ein Kreis, als er im Freibad seinen Schwarm vom Gymnasium wieder trifft, Josefine. Kann es sein, dass für beide – an diesem Ort ihrer Kindheit – ein neues, gemeinsames Kapitel beginnt?
Ein Kammerspiel
Als Leserinnen und Leser tauchen wir ein in die Köpfe der verschiedenen Freibad-Gäste, erkennen Sehnsüchte, Beziehungen und wunde Punkte; und allmählich setzt sich das Bild – wie in einem Wimmelbild – zu einem Ganzen zusammen.
Das Urteil in den Lesezirkeln war mehrheitlich positiv: Arno Franks behutsame Beobachtungsgabe wurde gelobt; ebenso die grosse Menschenkenntnis. Einzelne fanden die Geschichte etwas «überbevölkert»; anderen fehlte zum Teil die nötige Geduld, sich wirklich auf das leise Tempo und die einzelnen Charaktere einzulassen. Denn es ist klar: Arno Frank ist kein schneller Erzähler; er nimmt sich Zeit, die einzelnen Figuren und ihre Biografien auszuleuchten.
Die Pointe verpasst?
So entging wohl den meisten die zentrale Pointe: Dass das Mädchen, das am Schluss des Buches – trotz Absperrband – den Siebener erklettert und vor den Augen der Sonnenhungrigen den «Seemann» wagt – kopfvoran mit angelegten Armen am Körper – keine geringere war, als die Schwester des tödlich verunglückten Mannes, der auf den nackten Beton geknallt war. So schliesst sich am Schluss der Kreis. Einmal mehr haben sich die Diskussionen in den Lesezirkeln gelohnt; denn eines wurde deutlich: bis auf eine Leserin und einen Leser hatte niemand diesen Zusammenhang erkannt.
Luzia Stettler
Ich habe den „Seemann“ resp. die Seiten mit dem Mädchen und ihrem Bruder nochmals im Hinblick auf die „Pointe“ überflogen. Arno Frank macht es zum Glück so, dass er die oben erwähnte Konstellation bei der Lektüre nicht aufs Auge drückt. Ich vermute fast, dass es des Autors Geheimnis bleiben soll/kann, dass im Buch eine „Geisterfigur“ vorkommt.
Franks neuer Roman „Ginsterburg“ spielt ebenfalls in einer fiktiven Kleinstadt. Dort verfolgt er ein gutes Dutzend Personen – nicht wie im „Seemann“ über einen Tag, sondern über die Zeit von 1935-1945. Das ist keine leichte Sommerlektüre mehr, sondern zeigt in der gut recherchierten und auf Fakten basierenden Geschichte, wie es möglich ist, dass sich eine Gesellschaft ins Unglück stürzt. Ebenfalls sehr lesenswert.
Seemann vom Siebner finde ich tief berührend und sehr humorvoll.
z.B. Seite 138/139 die Beschreibung der Glace-Tafel mit dem Flutschfinger und die Schilderung von Isobel auf S.125. Wunderbar zu lesen. Die perfekte Sommerlektüre, aber auch fürs ganze Jahr geeignet.