Diskussion zum Roman «Service» von Sarah Gilmartin

In ihrem Roman «Service» entführt uns die irische Autorin Sarah Gilmartin in die Welt der Spitzengastronomie: Der gefeierte Sterne-Koch Daniel führt sein Lokal in Dublin wie ein König, die Kundschaft steht Schlange. Als ihn eine Kellnerin wegen sexuellen Übergriffen anklagt, steht alles auf dem Spiel: Sein Ruf, seine Familie, seine Existenz.

Das Thema MeToo hat längst die Literatur erobert. Und meistens geht es in diesen Büchern um zwei Perspektiven: Entweder um die des vermeintlichen Täters oder die des Opfers. Was passiert, wenn Männer – oft in exponierten Positionen – plötzlich eine Klage am Hals haben, obwohl sie unschuldig sind? Auch schon der Hauch eines Verdachts kann verheerende Auswirkungen haben.

Der Mut, einen Übergriff anzuzeigen

Für betroffene Frauen handkehrum braucht es enorm viel Mut, ihre Scham zu überwinden und einen sexuellen Übergriff anzuzeigen. Denn auch sie müssen mit brutalsten Konsequenzen rechnen: Bei einem Prozess wird die Gegenseite alle Register ziehen. Kein Wunder ist die Dunkelziffer bei diesem Verbrechen so hoch: Nicht allen Opfern reicht die Kraft, sich öffentlich zu wehren. Dank der MeToo-Bewegung ist immerhin einiges in Bewegung geraten.

Raffinierte Erzählform

Sarah Gilmartin wählt in ihrem Roman «Service» eine raffinierte Erzählform: Sie überlässt es uns Leserinnen und Lesern, ein Urteil zu fällen. Daniel, der gefeierte Sternekoch mit eigenem Gourmetlokal mitten in Dublin, soll eine Angestellte vergewaltigt haben. Deshalb kommt es jetzt zum Prozess. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde in der Stadt, alle Tisch-Reservationen werden von der Kundschaft sistiert, das Restaurant muss vorübergehend geschlossen werden. Wie Dan diese Situation erlebt, welche Erinnerungen und Gedanken ihn begleiten, erfahren wir im ersten Erzählstrang; die zweite Perspektive bringt uns die Erfahrungen und Meinungen seiner Ehefrau Julie näher; und die dritte Stimme gehört Kellnerin Hannah, einer Kollegin der Klägerin Tracy.

Jung und sexy

Mit überraschender Leichtigkeit und psychologischer Präzision gelingt es Sarah Gilmartin, uns Einblick zu geben in diesen heiklen Fall; der wechselnde Fokus trägt zum Verständnis bei und macht gleichzeitig deutlich, wie schwierig es sein muss für ein Gericht, ein Urteil zu fällen. Da ist Hannah, die junge Kellnerin, die offen von ihrer anfänglichen Begeisterung in diesem Job erzählt; mit der Zeit aber auch realisiert, dass es kein Zufall ist, dass nur gutaussehende junge Frauen eingestellt werden. Man erwartet von ihnen, dass sie locker mit aufdringlichen Kunden und Kollegen umgehen.

Spitzenkoch Daniel ist König

Daniel wiederum – das wird bei seinen Aussagen deutlich – fühlt sich als absoluter König: Er hat sich seinen Spitzenplatz in der noblen Gastronomie hart erkämpft und glaubt, sich in seinem Reich jedes Recht herausnehmen zu dürfen; deshalb ist er sich auch keiner Schuld bewusst. Unterstützt wird dieses Image auch durch seine Frau Julie, die zwar vorläufig noch zu ihm steht, aber sein narzisstisches Gebaren schon längst durchschaut hat.

Der Ball liegt beim Publikum

In den Lesezirkeln wurde vor allem gelobt, dass Sarah Gilmartin auf jegliche Schwarz-Weiss-Malerei verzichtet, sondern alles daran setzt, ihrem Publikum ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Einige empfanden Daniel auch durchaus sympathisch; andere trauten ihm nicht über den Weg. Genau das macht für mich die Qualität dieses Romans aus: Dass wir uns aus all den Informationen und Beobachtungen einen eigenen Reim auf die Geschichte machen müssen. Gleichzeitig erhalten wir durch die differenzierten Beschreibungen auch einen spannenden Einblick hinter die Kulissen der anspruchsvollen Haute Cusine.

Genialer Twist am Schluss

Für mich war die Lektüre von «Service» spannender als jeder Krimi: Weil ich neugierig war, wie der Roman ausgeht. Kommt Daniel davon? Oder muss er ins Gefängnis? Und wie wird es der Autorin gelingen, uns Leserinnen und Leser mit einem plausiblen Ende zu entlassen. Der Twist am Schluss ist genial; und genau da wusste ich es definitiv: Dieses Buch muss ich in der Winterstaffel ins Lese-Programm nehmen.

Luzia Stettler

4 Kommentare

  1. Ich habe diesen Roman auch gelesen wie einen Krimi.
    Die Leben der drei Protagonisten und ihr Verhältnis zueinander, fühlte sich für mich an, wie wenn ich einem langen Theaterstück gewesen wäre.
    Die drei Figuren sind mir nach Wochen noch präsent.
    Die Autorin hat dem Thema der #MeeToo-Bewegung eine wichtige Stimme gegeben.

  2. Von Anfang an wollte ich wissen, wie dieser Prozess endet. Meine Neugierde trieb mich fast dazu, das Buch zu schnell zu lesen. Deshalb habe ich es nach dem – wirklich unerwarteten Twist am Ende – nochmals gelesen. Es hat sich gelohnt, bereits auf den ersten paar Seiten, tauchte ich erneut in die turbulente Bruthitze des irischen Restaurants ein. Im Wissen um den Schluss des Buches erkannte ich viele weitere subtile Informationen und Zwischentöne.
    Ein Buch zum Zweimal Lesen! … zu einem belastenden und verstörenden Thema.

  3. Das Buch hat mich sofort gefesselt und der Schluss – die doch noch zu erwartende Verurteilung von Daniel – überzeugte mich. Für mich wurde aber Hannah als eine der drei Hauptfiguren zu klischeehaft dargestellt.
    Damit meine ich keinesfalls, dass Hannah irgendwie schuld ist an der Vergewaltigung. Kritische Fragen drängen sich mir aber auf: Hat Hannah sich nicht selber dazu entschieden, in diesem Restaurant zu arbeiten? Hätte sie sich nach der anfänglichen Faszination nicht selbstkritisch fragen müssen: will ich in diesem Umfeld weiterarbeiten, tut es mir gut, bringt es mich weiter? Ich meine damit: es fehlte ihr an Selbstverantwortung und Selbstsorge. Dieser Gedanke wird nicht aufgenommen. Hannah verharrt passiv in Schockstarre, zuerst als Ueberlebende, dann als Opfer, und verpasst es, sich mit sich selber auseinanderzusetzen und Vertrauen in Selbstwirksamkeit und in eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Die Grundhaltung der „Ermächtigung“, des Empowerments, hat mir in dieser MeToo-Debatte gefehlt.

  4. Liebe Eva
    Ich habe Deinen Kommentar gelesen über Hannah und ich bin damit nicht einverstanden.
    Offensichtlich gefällt Hannah das Kellnern und sie nimmt dafür den Stress in Kauf.
    Von aussen betrachtet, resp. aus unserer Sicht verausgabt sie sich und führt kein gesundes Leben. Das ist ihre Entscheidung. Dann kommt sie in eine sehr unangenehme Situation. Sie wird misshandelt, vergewaltigt. Was ich sagen möchte: Eine junge Frau arbeitet in einem harten Milieu, der Umgang mit Frauen ist frauenfeindlich, frauenverachtend. Sie hat ein Recht dort zu arbeiten.
    Das männliche Personal respektiert sie nicht als Arbeitskraft und nimmt sich das Recht, sie zu demütigen. Sie wird nicht gleichberechtigt behandelt.
    Muss eine Kellnerin oder sonst eine Frau heute zuerst auf die Gutmütigkeit der Männer hoffen, dass sie einen Job ausüben darf?

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