
In den vergangenen Jahren hat sich der holländische Starautor Leon de Winter häufig an hochbrisanten Debatten zum Nahostkonflikt beteiligt. Im neuen Roman «Stadt der Hunde» werden diese Themen mit hoher Erzählkunst in einer Geschichte versteckt. «Ein Märchen» nennt der Autor selber dieses Buch, das er sich – wie er sagt – zum 70. Geburtstag geschenkt hat. In den Lesezirkeln löste die Lektüre sehr kontroverse Diskussionen aus.
Jaap Hollander, die Hauptfigur in «Stadt der Hunde», ist auf den ersten Blick kein sympathischer Kerl; er mag zwar ein genialer Hirnchirurg sein, aber der Erfolg hat ihm offenbar nicht gut getan: Er behandelt Frauen wie Freiwild, betrügt seine Gattin Nicole mit Ärztinnen und Krankenschwestern, emotional ist er wenig begabt, für seine Tochter Lea hat es in seinem ausgefüllten Alltag wenig Zeit. Erst als diese eines Tages – zusammen mit ihrem Freund Joshua – auf einer Reise in die israelisch Wüste Negev spurlos verschwindet, wird er wachgerüttelt; fortan ist sein Leben nicht mehr, was es war; er realisiert, was er als liebloser Vater eigentlich verpasst hat, und er klammert sich auch nach zehn Jahren noch an die Illusion, dass die beiden nicht tot sind; schliesslich wurden ihre sterblichen Überreste nie gefunden.
Eine geologische Expedition
Regelmässig kehrt Jaap in die Wüste Negev zurück, wo eine Gedenkstätte für die zwei Jugendlichen eingerichtet worden ist. Er ist mittlerweile pensioniert und die Ehe an diesem Schicksalsschlag längst zerbrochen. Wir lernen ihn im Roman kennen, als er in Tel Aviv Kontakt sucht zu einem Geologen, der imstande wäre, die Wüsten-Höhlen mit einem Team akribisch nach Spuren zu durchforsten, was allerdings immense Kosten mit sich bringen würde. Aber Jaap verspricht sich davon die Möglichkeit, definitiv Abschied nehmen zu können.
Eine OP für den Weltfrieden
Da ereilt ihn eines Tages der Hilferuf des israelischen Ministerpräsidenten; dieser vermittelt in einer geheimen Mission; es geht darum, die Tochter eines saudischen Prinzen zu retten; sie leide an einer angeborenen Missbildung im Gehirn; und nur eine Operation könne sie noch vor dem Tod retten. Jaap Hollander, der geniale Chirurg, sei für die junge Frau die letzte Chance; mehr noch: Der gesamte Weltfrieden stehe auf dem Spiel, denn die Prinzessin sei nämlich die designierte Thronfolgerin und werde den Nahost-Konflikt ein für allemal lösen. Angeboten wird eine Summe von 1000 Millionen Dollars. Jaap hat nichts mehr zu verlieren: Er weiss zwar, dass er ein Scheitern mit dem eigenen Tod bezahlen würde; aber die Finanzierung der Grabungsarbeiten in der Wüste wäre so oder so gesichert. Das Märchen nimmt seinen Gang …
Die Rolle des Hundes
Und dann ist da noch der rätselhafter Hund, der Jaap erstmals an der Gedenkstätte über den Weg läuft. Er taucht im Laufe der Geschichte immer wieder auf, beginnt sogar zu sprechen, – und man fühlt sich beim Lesen hin- und hergerissen zwischen Traum und Realität. Ist er ein Bote aus dem Totenreich? Symbolisiert er die verdrängte spirituelle Seite von Jaap? Genau dieses Wabern zwischen den Welten hat mich persönlich an diesem Roman fasziniert; und auch die spürbare Wandlung des Rationalisten Hollander wirkte auf mich sehr überzeugend.
Kontroverse Meinungen
Viele in den Leserunden schätzten – wie ich – die raffinierte Konstruktion des Romans: vom Genre her eine Mischung aus Psychothriller, Entwicklungsroman und Parabel, gewürzt mit Aktualität, Tempo, Spannung und Humor. Aber es gab auch kritische Stimmen: Einige empfanden die Geschichte unrealistisch und konnten sie selbst als Märchen nicht goutieren. Die kontroversen Meinungen spiegelten sich dann auch in den Noten: Von 2 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) waren alle Schattierungen vertreten und dementsprechend engagiert verliefen die Diskussionen.
So gesehen: Eine wunderbare Lektüre für einen Lesezirkel.
Luzia Stettler