Bild: Logo Luzia Stettler

Diskussion zum Roman «Die spürst du nicht» von Daniel Glattauer

Bild: Buchcover "Die spürst du nicht" von Daniel Glattauer

Die beiden romantischen Email-Romane «Gut gegen Nordwind» und «Alle sieben Wellen» machten den Wiener Daniel Glattauer international berühmt. In seinem neuesten Bestseller «Die spürst Du nicht» lernen wir den politischen Glattauer kennen, der sich hier der Flüchtlingsfrage widmet: Mit böser Ironie hält er den Gutmenschen und Pseudo-Toleranten in Österreich den Spiegel vor.

Die Binders und die Strobl-Marineks fahren regelmässig gemeinsam in die Ferien: die Kinder sind miteinander beschäftigt, und die Erwachsenen können sich endlich mal vom Familien-und Arbeitsstress erholen. Auch diesen Sommer ist alles für den perfekten Urlaub vorbereitet: Man hat in der Toskana eine schöne Villa mit Pool gemietet; und sogar die pubertierende Tochter Sophie-Louise ist noch einmal mitgefahren; ihrer Forderung, dass die neue Schulkollegin Aayana aus Somalia nach Italien mitkommen darf, wurde stattgegeben.

«So ein braves Mädchen»

Und so sitzt man nun also nach der langen Autofahrt erschöpft aber glücklich auf der Terrasse erstmals beisammen, geniesst die wunderbare Sicht über die sanften Hügel und prostet sich mit zwei, drei Gläsern Prosecco lachend zu. Engelbert und Melanie Binder – ein Winzer-Paar aus dem Burgenland – gratulieren ihren Freunden für ihre Grossherzigkeit, einem Flüchtlingskind diesen Luxus-Aufenthalt zu gönnen; «so ein braves Mädchen. Die spürst du gar nicht», kommentiert Engelbert den jungen Feriengast. Oskar Marinek, Lektor an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien, dominiert die Runde – wie so oft – mit intellektuellen Ausschweifungen und seine Frau, Elisa Strobl-Marinek, Berufspolitikerin bei den Grünen und auf dem Sprung in ein Ministeramt, hat nur ein Ziel in diesen Ferien: Sich endlich einmal zu entspannen.

Tod im Swimmingpool

Niemand ahnt, dass diese Pläne ein paar Stunden später völlig über den Haufen geworfen werden: Sophie’s Schulkollegin Aayana ertrinkt im Swimmingpool; niemand hat ihr Verschwinden bemerkt. Als man ihren leblosen Körper endlich im Wasser entdeckt, kommt jede Rettung zu spät.
Als Leserinnen und Leser begleiten wir nun die Binders und die Strobl-Marineks durch die folgenden Wochen: Alles steht auf dem Spiel – die Freundschaft, die Beziehungen, die Uni-und Politkarrieren und die finanzielle Sicherheit. Der Anwalt der Flüchtlingsfamilie klagt auf fahrlässige Tötung und fordert Schmerzensgeld in der Höhe von 200‘000 Euros.

Perfekte Gratwanderung

Daniel Glattauer hält in diesem Roman den Pseudo-Toleranten und Gutmenschen gnadenlos den Spiegel vor. Man ist in diesen Kreisen selbstverständlich für die Aufnahme von Flüchtlingen, möchte aber gleichzeitig nichts mit ihnen zu tun haben. Eine ideale Immigrantin ist eben eine, «die man nicht spürt». Als Schriftsteller zieht Daniel Glattauer hier alle Register: Er wechselt Perspektiven, gibt Einblicke in Interviews, erlaubt sich überraschende Twists und zitiert auch regelmässig aus Internet-Foren, um auf diesem Wege «Volkes Stimme» in die Geschichte einzubinden.
Gerade dieser literarische Kniff polarisierte in den Lesezirkeln; einzelne Stimmen fanden diese Idee genial, wie subtil es dem Autor so gelang, die Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft abzubilden; andere taten sich schwer, diese Postings überhaupt zu lesen.

Mehrheitlich waren sich aber alle einig: Die grosse Stärke dieses Romans besteht in der perfekten Gratwanderung zwischen Humor und Ernsthaftigkeit; er beweist, dass man tiefgründige Stoffe durchaus auch mit einer gewissen Leichtigkeit erzählen kann; nie wird Daniel Glattauer moralinsauer; nie erlaubt er sich Scherze auf Kosten von Schwächeren, sondern er vertraut einfach dem soliden Erzählen einer guten Geschichte. Und man spürt intuitiv: Hier meldet sich ein Autor zu Wort, der die Flüchtlinge nicht nur aus Distanz betrachtet, sondern sich selber für diese Menschen engagiert.

Luzia Stettler

3 Kommentare

  1. Ich habe mir, nach unserem Lesezirkel, noch viele Gedanken gemacht. Mich beschäftigte die Aussage, Pierre habe sich an Sophie-Luise gerächt. Ich vermute, das ist nicht so. Sondern, es trafen sich im Netz, zwei sehr unglückliche, schwer traumatisierte, einsame, junge Menschen. Ich vermute, dass Pierre So-Lu erkannte. Als Sophie-Luise zu ihm ging, sah sie das Bild, dass er von ihr und seiner Schwester gezeichnet hatte. Die beiden, jungen Frauen zeichnete er umschlungen. Ich vermute, das hätte er nicht so gezeichnet, wenn er sich rächen wollte. Dass er ihr Drogen gab, könnte damit zu tun haben, dass er selbst tief drin steckte und die Drogen ihm zeitweise halfen. Er wollte so Sophie-Luise helfen. Jugendliche sind meines Erachtens, gerade, wenn sie allein gelassen werden, gefährdet Drogen auszuprobieren. Schnell werden sie abhängig.
    Pierre hat unter das Bild der Beiden geschrieben, seine Schwester lebt durch Sophie-Luise weiter.

  2. Ich habe mich sehr auf den neuen Glattauer gefreut und war anfangs begeistert, wie er die Personen charakterisierte. Mit dem Ertrinken des Mädchens schlug die Stimmung um, das Buch war zwar weiterhin spannend und die verschiedenen Entwicklungen zu verfolgen – es las sich fast wie ein Krimi. Am Besten gefallen haben mir seine Twists und Posts.
    Das Buch hat mich aber nicht überzeugt, weil da war für meinen Geschmack zu viel an Dramatik und Themen: Ehe- und Erziehungsproblematik, Flüchtlingsschicksal, Flüchtlingsintegration, Fremdenfeindlickkeit, Machtspiele in der Politik, Klima, Kapitalismus. Täglich sehe ich schreckliche Bilder und lese Artikel über Menschen, die übers Meer nach Europa flüchten müssen, Horror pur und leider Realität und grosses Elend. All dieses Szenarien in einen Roman zu verpacken, passt für mich nicht zusammen, wirkte für mich unrealistisch. Das Thema ist zu ernst, zu brisant und passt für mich so als Unterhaltungsroman nicht zusammen.
    Der Autor wollte ein politisches Buch schreiben, was ihm gelungen ist aber für mich ist sein Stilmix an Themen, Problemen ein zu grosses Feld.

  3. In jeder Staffel gelingt es Luzia Stettler, ein Buch auszuwählen, das man nie wieder vergisst. Dieses Buch gehört in diese Kategorie. Man kann die Geschichte einfach nicht mehr vergessen, und der Alltag und die Medien sorgen auch dafür, dass die Eindrücke lebendig bleiben und man sich immer wieder auf empathische und dennoch distanzierte Art den Themen Flucht und Migration stellt. Daniel Glattauer gelingt es auf einzigartige Weise zu berühren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert